Frostblüte (German Edition)
perfekter Unterschlupf – genau das, wonach Luca auf dem Rückweg ins Lager gesucht hätte.
Ich versuchte Abdrücke in der staubigen Erde auszumachen, doch mittlerweile ließ sich kaum noch etwas erkennen. Das rotgoldene Licht der untergehenden Sonne schien noch oben auf die Felsen, doch am Boden war es schon dämmrig.
»Hoch«, sagte ich. »Wir müssen nach oben.«
Dieses Mal machte Arian keinen Versuch, mit mir zu diskutieren. Als wir keuchend den dünnen Erdstreifen neben dem Steinschlag hochkletterten, traten wir Kiesel und Erde los.
»Wonach halten wir Ausschau?«, fragte Arian, als er stehen blieb, um sich Schweiß und Staub vom Gesicht zu wischen.
Ich sah zu ihm hoch – und erstarrte. Meine Finger zitterten, als ich darauf zeigte. »Danach.«
Dort, auf einem der Felsen neben Arians Schulter, war ein angetrockneter Blutfleck. Es war der Abdruck einer Hand. Einer großen, langfingrigen Hand.
Arian flüsterte lautlos vor sich hin – eine Verwünschung vielleicht. Oder ein Gebet.
Mein Blick wanderte über die Felsen, bis ich ein paar Schritte rechts von Arian eine Spalte entdeckte. Ich deutete noch einmal. Arian ging in die Knie und versuchte hineinzukriechen, aber er war zu breit. »Ich brauche Licht. Ich kann hier drin nichts sehen. Luca! Luca, kannst du antworten?«
»Mach Platz.« Ich schubste Arian energisch zur Seite, riss mir das Bündel von den Schultern und quetschte mich in den Spalt. Meine Schultern schürften schmerzhaft gegen den rauen Fels.
»Luca?« Meine Stimme war ein Krächzen. In dem engen Spalt war kein Echo zu hören.
Ich tastete mich durch die feuchte Erde und streckte blind die Hände aus. Meine Fingerspitzen berührten Stoff, dann die unverkennbare Form eines muskulösen Handgelenks.
»Luca.«
»Siehst du was?« Die Felsen konnten die Dringlichkeit in Arians Stimme nicht dämpfen.
»Er ist es. Hilf mir.«
Lucas Haut fühlte sich eiskalt an und das Einzige, was ich in der Enge hören konnte, war mein eigenes, flaches Atmen. Ich packte seinen Arm und bewegte mich, so gut ich konnte, langsam rückwärts. Arian fasste mich an den Beinen und zog. Die Spannung in meinen Gliedern ließ mich ächzen.
Dann war da ein Geräusch wie ein Reißen. In der dunklen Spalte löste sich etwas und ich rutschte in einer Staubwolke nach draußen ins letzte Tageslicht – zusammen mit meiner Last.
Arian ließ mich los und drehte sich mit einem schmerzlichen Aufstöhnen weg. Er musste sich mit einer Hand am Felsen abstützen, um nicht umzukippen.
Es war Luca. Die feinen Züge seines Gesicht waren unverkennbar, auch wenn sie geschwollen, voller Prellungen und blutverkrustet waren, auch wenn seine herrlichen goldenen Haare so grässlich kurz abrasiert waren, dass die Kopfhaut zwischen dem unregelmäßigen Flaum hindurchschimmerte.
Seine Uniform hing in Fetzen herunter. Auf seinen Armen und dem Oberkörper waren blaue Flecken, um seinen Hals Würgemale. Blasige Brandwunden bildeten klare Kreuzformen auf beiden Wangen. Das Zeichen des Verräters.
Er lag reglos da, schlaff und leblos.
Irgendetwas – ein Schluchzen, ein Schrei, ich wusste nicht was – blieb mir in der Kehle stecken und nahm mir die Luft. Ich konnte nicht atmen. Ich konnte mich nicht rühren. Die Welt war aus den Angeln gehoben und kreiste wild um mich herum, während die Sonne am Horizont versank und uns in Dunkelheit hüllte.
Nein.
Nein.
Nein.
Luca stöhnte schwach.
Mit einem schwindelerregenden, schmerzhaften Stoß flutete Luft durch meine Brust. Die Welt kam ins Gleichgewicht. Dunkelheit verwandelte sich in Dämmerung. »Er lebt, Arian, er lebt!«
Arian fuhr herum und starrte uns an, ungläubig und voller Hoffnung. Dann nahm er Luca und hob ihn mit einem Ruck hoch, als wöge er nichts. Ich sprang auf und schnappte mein weggeworfenes Bündel.
Wir rannten.
Der Rückweg zum Lager dauerte eine unerträgliche Ewigkeit; Augenblicke wurden zu Stunden. Mein Keuchen war ohrenbetäubend. Ich schlitterte und rutschte vor Arian den Abhang hinunter, bog Zweige zur Seite, trampelte Wurzeln nieder – dieses Mal nicht für ihn, sondern für Luca. Jedes Mal, wenn ich zurückblickte, sah ich Lucas Kopf willenlos gegen Arians Schulter kippen, die Dämmerung verhüllte gnädig sein Gesicht. Arian hielt die ganze Zeit den Kopf gebeugt. Vermutlich achtete er überhaupt nicht darauf, wo er hintrat.
Endlich sah ich durch die Bäume das orangefarbene Flackern der Fackeln. Ich rannte voraus auf die Lichtung und durch das Lager zu dem
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