Frostblüte (German Edition)
Augen, als Luca Dinesh sanft wegführte. Irgendetwas sehr Schlimmes war vorgefallen. Es ging nicht nur um das, was Dinesh getan hatte. Sondern was es für ihn und alle anderen bedeutete.
Gewalt war etwas Ansteckendes, und sobald sie Wurzeln schlug, tötete sie all das, was gut war in den Menschen. Glück, Vertrauen, Liebe. Dinesh hatte Adela retten wollen, stattdessen hatte er sie gegen sich aufgebracht, vielleicht für immer.
Genau wie ich es bei meiner Mutter getan hatte.
Doch Dinesh war nur ein Mensch. Ein normaler junger Mann, der die Kontrolle über sein normales menschliches Temperament verloren hatte. Jeder Mensch konnte einen solchen Fehler machen und ihn bereuen, man würde ihm vergeben. Ich war kein Mensch, nicht im eigentlichen Sinne. Es war nicht meine eigene Wut, die ich auf die Welt loszulassen drohte, sondern der unersättliche Appetit des Wolfs, der nur nach Tod lechzte.
Hätte sich der Wolf auf Birkin gestürzt, hätte er ihm mit meinen Zähnen die Kehle durchgebissen. Hätte Luca mich an der Schulter gepackt, wie er es bei Dinesh getan hatte, hätte sich der Wolf auch auf ihn gestürzt. Der Schaden, den ich Menschen zufügen konnte, die mir … wichtig waren, war unermesslich.
Falls ich das für kurze Zeit vergessen hatte, hatte Birkins Anblick es mir wieder in Erinnerung gerufen. Ich wusste, dass ich noch in diesem Augenblick meine Sachen packen und vor diesem Ort und diesen Menschen davonlaufen sollte, um der Gewalt durch Flucht zu entkommen – so wie ich es immer getan hatte.
Doch ich packte nicht. Ich machte nicht einmal Anstalten dazu.
Die Stärke und die Entschlossenheit in Lucas Stimme, als er seinen Leuten erklärt hatte, dass sie gute Menschen waren, hatten sich um mein Herz gelegt und formten einen undurchdringlichen Panzer gegen die Zweifel, die mich zur Flucht bewegen wollten. Luca glaubte, was er gesagt hatte, glaubte es felsenfest. Und irgendwie spürte ich – wusste ich –, dass die bloße Kraft dieses Glaubens seine Worte wahr machen konnte.
Seine Worte wahr machen würde.
Die Zeltplane wurde mit einem Rascheln hochgeschlagen und eine kühle nächtliche Brise strich über mein Gesicht. Ich setzte mich auf.
»Ich weiß, dass du hier bist«, sagte Luca.
»Das ist mir klar. Ich habe auf dich gewartet.«
Es entstand eine Pause. Ich hörte keine Bewegung, doch ich stellte mir vor, wie er durch das Zelt ging. Das Kratzen von Feuerstein, ein Funke und das Aufflammen von Licht gaben mir Recht. Als Luca die Öllampe entzündete, die an einem Holzpfosten in der Zeltmitte hing, warfen winzige Unebenheiten im Glas einen Strahlenkranz auf die Zeltwände und verwandelten Lucas Gesicht in eine Maske aus Gold. Ich blinzelte und zwang mich wegzusehen.
Luca setzte sich auf den Rand seines Bettes. Ich rieb mir die Augen und sah ihn wieder an. Das Trugbild war verschwunden. Er sah müde aus. Mehr als müde – erschöpft. Erledigt.
»Du fragst dich wahrscheinlich, auf was du dich hier eingelassen hast«, sagte er. In seiner Stimme zeigte sich seine Erschöpfung sogar noch stärker als in der tiefen Falte zwischen seinen Brauen und der Anspannung um seinen Mund. »Ich habe dir versprochen, dass ich dir beibringe, deine blinde Wut im Zaum zu halten. Ich habe geprahlt und den Mund voll genommen. Und an deinem ersten Tag hier siehst du dann das . Den Beweis, dass es mir in über einem Jahr nicht gelungen ist, meinen eigenen Leuten diese Lektion beizubringen.« Er ließ ein bitteres Lachen hören. »Ich weiß nicht, warum mir jemand glauben soll, ich könne ihr oder ihm helfen, nachdem er Zeuge eines solchen Vorfalls geworden ist.«
Ich wollte ihn irgendwie beschwichtigen, aber es war völlig ungewohnt für mich, mir tröstliche Worte auszudenken. »Du hast gesagt, du glaubst nicht an Flüche, sondern dass man die Wahl hat«, sagte ich langsam. »Dieser Bergwächter, Dinesh – er hatte die Wahl, oder? Und er hat die falsche Entscheidung getroffen. Was passiert hier, wenn man die falsche Entscheidung trifft? Wirst du ihn bestrafen und wegschicken?«
Lucas Kopf schnellte hoch. »Nein! Er ist ein guter Soldat. Was heute Nacht passiert ist – hat ihn überfordert. Er liebt Adela. Er liebt sie schon seit langem, obwohl sie sich nichts aus ihm macht und er das weiß. Er hat einfach die Selbstbeherrschung verloren.«
»Er wird es nicht wieder tun?«
Luca schüttelte den Kopf. »Er schämt sich so sehr für sein Verhalten, dass er sich übergeben hat, als er ins Gemeinschaftszelt
Weitere Kostenlose Bücher