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Frostengel

Frostengel

Titel: Frostengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamina Berger
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als ich auf mein Steckdosenlicht verzichten konnte, nicht weil ich mich plötzlich nicht mehr fürchtete, sondern weil ich meinte, in dem Alter müsste man die eigenen Ängste im Griff haben und sie überwinden. Natürlich ist nie etwas passiert. Was sollte auch geschehen? Ich war in meinem Zimmer sicher, meine Eltern waren da, und wenn sie ausgehen wollten, schlief ich meist bei Theresa. Zu zweit kann man der Angst besser ins Gesicht lachen. Mit jeder Nacht, die verstrich, ohne dass mich Einbrecher, Mörder, Grusel- oder Horrorgeschöpfe holen kamen, fühlte ich mich stärker. Doch seit ich Melissa da draußen im Schnee fand, ist meine Furcht stärker denn je. Ich hasse es, im Dunkeln nach Hause zu fahren. Meiner Mutter macht das nichts aus, mich überall abzuholen, sagt sie. Ich glaube, sie ist sogar froh. So weiß sie immer, wo ich bin, was ich tue, mit wem ich mich treffe. Sie hat mein Leben voll unter Kontrolle – und ich lasse es zu, weil die Angst größer ist als der Wunsch nach Selbstständigkeit.
    Gestern hat sie auf mich gewartet. Sie war sauer, weil ich nicht angerufen habe. Sie wäre sonst schlafen gegangen, behauptete sie, aber das glaub ich nicht. Dazu macht sie sich zu große Sorgen.
    Sie hat ja recht. Ich hätte anrufen sollen. Ich konnte an ihrem Gesicht ablesen, wie erleichtert sie war, dass ich heil wieder zurückgekommen bin.
    Ich sagte zu ihr, sie habe sich früher auch nicht solche Sorgen um mich gemacht. Da meinte sie, das sei eben früher gewesen. Ich hätte mich seit »dieser Sache« verändert, sei regelrecht depressiv, esse kaum, schliefe schlecht, sei fahrig und nervös. Ängstlich.
    Es läge nicht daran, dass ich unterwegs war. Sie macht sich auch Sorgen um mich, wenn ich bloß eine Etage weiter oben in meinem Zimmer bin.
    Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand, was sie mir sagen wollte. Und dann schrie ich sie an, obwohl ich meiner Mutter gegenüber noch nie laut geworden bin. Sie solle mich gefälligst in Ruhe lassen. Ich hätte nicht vor, in Melissas Fußstapfen zu treten. Ich würde mich nicht umbringen, aber sie könne nicht erwarten, dass »diese Sache« spurlos an mir vorübergehen würde.
    Dann lief ich die Treppe hoch und knallte meine Tür zu. Auch etwas, was ich sonst nicht mache. Später, als ich im Bett lag und alles im Haus ruhig war, hörte ich sie im Badezimmer die Nase putzen. Ich war mir sicher, dass sie geweint hatte.
    Und das war der Augenblick, als ich beschloss, dass es so nicht mit mir weitergehen kann. Es ist wie damals, als ich mit 14 Jahren das Nachtlicht aus der Steckdose zog und in die Schublade verfrachtete. Dort war es griffbereit, aber ich wusste, dass ich es nur im äußersten Notfall verwenden würde.
    Allerdings ist es leichter, einen Entschluss zu fassen, als ihn durchzuziehen. Gestern Abend nahm ich mir vor, mich nicht länger von meiner Angst bestimmen zu lassen. Ich will wieder ein normales Leben führen, ohne dass meine Mutter ständig hinter mir herläuft, weil sie sich Sorgen um mich macht. Da hilft jetzt nur die gleiche Konsequenz wie beim Nachtlicht.
    Doch je mehr ich versuche, die Angst in den Hintergrund zu schieben, desto mehr ist sie da. Sogar die vor dem Dunkeln, die ich überwunden glaubte. Besonders die vor dem Dunkeln. Nachdem ich nicht einschlafen konnte, weil ich ständig hinaus in die Finsternis sah und mir vorstellte, wo Melissa wohl jetzt war, und ich sie plötzlich wieder vor mir sah, wie sie sich aus der Schwärze schälte, wollte ich sogar das Steckdosenlicht aus der Schublade holen. Natürlich lag es längst nicht mehr da. So starrte ich an die Decke und fürchtete mich davor, die Augen zuzumachen. Erst als es in meinem Zimmer ein wenig heller wurde, die Dunkelheit nicht mehr ganz so schwarz war, schloss ich meine Lider und wagte es, im Schlaf zu versinken. Ich wurde wach, weil jemand meine Zimmertür öffnete. Leise, um mich nicht zu wecken, aber ich bekam es trotzdem mit. Ich wusste, dass es meine Mutter war. Sie sorgt sich nach wie vor, ich könne etwas Unüberlegtes tun. Dabei bin ich mir sicher, dass Melissa nicht unüberlegt gehandelt, sondern ihren Plan voll durchdacht hatte, wieder und immer wieder. Je öfter und länger sie sich durch den Kopf gehen ließ, ob es nicht eine andere Möglichkeit für sie gab, desto sicherer wurde sie in ihrer Entscheidung. Sie hätte genug Zeit gehabt, es sich anders zu überlegen, sie hätte Hilfe rufen können. Sie hätte, verdammt noch mal, inkonsequent sein und dafür leben

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