Frostengel
können. Aber ihr Selbstmord war eben keine spontane Entscheidung gewesen, sondern er war überlegt und durchdacht.
Eine Weile lag ich noch im Bett und versuchte, noch einmal einzuschlafen, vergeblich. Also zog ich mich an und verließ das Haus, um zum Baumhaus zu gehen. Ich schreibe meinen Eintrag und verschwinde gleich wieder. Erstens habe ich meiner Mutter gestern schon genug Kummer bereitet und zweitens ist es wirklich verdammt kalt. Nun will ich mit mir selbst einen Vertrag schließen. Ich mache einen Stufenplan, in dem ich schrittweise versuche, meine Angst in den Griff zu bekommen. Ich werde mich nicht länger verkriechen, mich nicht länger von ihr versklaven lassen – zumindest die meiste Zeit nicht. Theresa wird mir bestimmt helfen. Ich muss nicht alles alleine tun.
Besiegelt und unterschrieben. Gültig ab sofort.
Kapitel 17
Nach meinem Gespräch mit Tanja ging ich schnurstracks nach Hause. Diesmal zu Fuß, weil ich das Gefühl hatte, Bewegung zu brauchen, um in Ruhe nachdenken zu können. Wie konnte ich mich so lebendig fühlen, so voller Energie, so gut, wo meine beste Freundin morgen beerdigt wurde? Im Gehen sortierten sich meine Gedanken. Ich konnte den Vormittag mit Leon Revue passieren lassen, mich an seine Berührungen, seine Blicke und seine Küsse erinnern. Julia hätte sich bestimmt für mich gefreut.
Ohne es zu bemerken, weil ich so in Gedanken versunken war, stand ich wieder vor der Brücke, von der Julia gestürzt war. Natürlich konnte ich nicht davon ausgehen, dass bisher keine anderen Leute vorbeigekommen waren, aber im Winter war es unwahrscheinlich. Ich zumindest würde zum Spazierengehen lieber Wege wählen, auf denen es weniger matschig war. Dennoch sah ich neben meinen mittlerweile gefrorenen Schuhabdrücken andere, größere. Sie führten von der Brücke die Böschung hinab, dorthin, wo Julias Körper gelegen hatte. Vielleicht bloß ein Schaulustiger, überlegte ich. Ich schlang die Arme eng um meinen Körper, weil ich plötzlich fror. Es war bereits später Nachmittag und das Thermometer wieder um ein paar Grade gesunken.
Was wollte ich eigentlich hier? Plötzlich musste ich den Zwang unterdrücken davonzulaufen. Woher kam diese Angst? An Gespenster glaubte ich nicht. Auch nicht an Spuk oder daran, dass Julias Geist sich hier herumtrieb. Aber seit Tagen hatte ich immer wieder den Eindruck, beobachtet zu werden.
Denk nach, Theresa. Wer konnte ein Interesse daran haben, mich zu verfolgen, mir überall aufzulauern? Bis zu meinem Besuch bei Leon hatte ich noch keinen Zweifel daran gehabt, dass er es war. Dass er Julia verfolgt hatte. Doch jetzt? Vielleicht tat Leon nur so, als wäre er in mich verliebt? Aber was wollte er damit bezwecken? Wollte er mich in Sicherheit wiegen, obwohl er doch etwas mit Julias Tod …? Nein! Leons Augen, die konnten unmöglich gelogen haben, als er mir sagte, dass er mich mochte. Konnte jemand so küssen, wenn er keine echten Gefühle empfand? Ich musste aufhören, so misstrauisch zu sein. Trotzdem blieb das Gefühl, dass mich jemand beobachtete. Ich drehte mich um und stieg die Böschung wieder hinauf, indem ich mich an herunterhängenden Zweigen hochzog. Möglichst unauffällig versuchte ich dabei, meine Umgebung abzuchecken. Als ich oben stand, wischte ich mir die Hände an meiner Hose ab. Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich glaubte, etwas in der untergehenden Sonne aufblitzen zu sehen. Und als ich in Richtung Horizont schaute, war mir, als hätte ich den Umriss einer Person erkannt. Doch die Sonne blendete mich, und als ich meine Augen wieder öffnete, war der Umriss verschwunden. Falls er nicht ohnehin nur in meiner Einbildung existiert hatte.
Als ich ganz außer Atem zu Hause ankam, war ich mir ziemlich sicher, dass mir das Licht und meine Fantasie einen Streich gespielt hatten. Natürlich war da niemand gewesen. Warum denn auch? Ich war mit Sicherheit eine der uninteressantesten Personen in ganz Kleinhardstetten und Umgebung. Nicht für jeden, widersprach ich mir. Leon findet dich zum Beispiel interessant genug. Ich musste lächeln. Leon. Genau, ich hatte versprochen, ihn anzurufen. Ich konnte es kaum erwarten, seine Stimme zu hören.
Noch bevor ich die Wohnungstür aufschloss, hörte ich die Stimmen meiner Mutter und Corinnas. Sie stritten unüberhörbar, doch erst als ich in der Diele stand, verstand ich, worum es ging. »Ich lass mich von dir nicht einsperren«, schrie Corinna und lief schluchzend in ihr Zimmer. Sie war so aufgebracht,
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