Frostglut
es heute Abend in der Bibliothek gewesen war.
Ich dachte daran, wie leise die Schnitter durch die Regalreihen geschlichen waren, besonders der Anführer. Weder Oliver noch Alexei hatten sie bemerkt, obwohl sie zu Kriegern ausgebildet worden waren. Allerdings hatten die beiden Jungs zu diesem Zeitpunkt auch eine heftige Diskussion geführt. Trotzdem konnte ich nicht anders, als zu bemerken, dass Inari ebenso schlank gebaut war wie der Anführer der Schnitter.
Ich glaubte nicht an Zufälle – nicht mehr. Und es passte einfach ein wenig zu gut zusammen, dass Schnitter die Bibliothek der Altertümer angegriffen hatten, gerade mal einen Tag, nachdem das Protektorat aufgetaucht war. Vivian Holler hatte wie das ruhigste, netteste, schüchternste Mädchen auf Mythos gewirkt, aber sie hatte sich als Lokis Champion entpuppt. Also fiel es mir nicht allzu schwer, mir vorzustellen, dass eines der Protektoratsmitglieder in Wirklichkeit ein eingeschleuster Schnitter war.
Ich ließ die Hand sinken. Wenn Inari ein Schnitter war, wollte ich ihm keinen Hinweis darauf liefern, dass ich ihn verdächtigte – oder dass ich das Gefühl hatte, etwas hier könnte mir vielleicht einen Hinweis liefern. Stattdessen benutzte ich ein Stück Holz, um den Samtständer unauffällig tiefer unter das Regal zu schieben. Ich würde später zurückkommen, den Ständer und die Regalbretter über ihm berühren und schauen, was meine Psychometrie mir verriet.
Dann machte ich eine große Show daraus, mir die Hände abzuklopfen, aufzustehen und mich den anderen anzuschließen. Inari beobachtete mich mit ausdruckslosem Gesicht, als wäre er eine der Statuen im ersten Stock. Nach ein paar Sekunden reihte er sich hinter mir ein und folgte mir in den Hauptraum der Bibliothek.
Anscheinend hatte Linus beschlossen, zuerst Logan zu befragen, denn er stand bei seinem Sohn, während Agrona in der Nähe herumhing. An Logans angespannter Miene konnte ich ablesen, dass sie gerade über mich sprachen. Metis unterhielt sich mit Sergei, Nickamedes, Daphne und Oliver. Sie winkte Inari zu, und der Ninja schloss sich der Gruppe an. Raven konnte ich nirgendwo entdecken. Sie musste bereits mit den Arbeitern und Bahren verschwunden sein.
Damit blieb ich allein – bis Alexei zu mir trat. Ich dachte, er würde mich wieder schweigend beobachten, wie er es den ganzen Tag über getan hatte, aber stattdessen streckte er die Hand aus und berührte mich am Arm.
Der Bogatyr zögerte kurz. »Ich wollte dir danken – dafür, dass du mir heute Abend das Leben gerettet hast. Und Oliver. Hättest du uns nicht gewarnt …«
»Nicht der Rede wert.«
»Doch, das ist es«, widersprach er. »Mein erster Auftrag vom Protektorat, und ich lasse mich von Oliver … ablenken, obwohl ich auf dich hätte aufpassen sollen. Ich habe das Protektorat enttäuscht und meinen Vater auch.«
»Dein Dad wirkte nicht unzufrieden mit dir«, meinte ich. »Außerdem macht doch jeder mal Fehler. Vertrau mir. In letzter Zeit habe ich wirklich üble Fehler gemacht. Du weißt schon. Ich habe mich dazu überlisten lassen, den Helheim-Dolch zu finden, wurde gezwungen, Loki zu befreien und habe so die gesamte Welt verdammt.«
Ich verzog das Gesicht. Das hatte eigentlich scherzhaft klingen sollen, aber selbst ich konnte den düsteren Ton in meiner Stimme hören. Über so etwas machte man keine Witze. Besonders nicht im Moment.
»Ja, aber du hast dich mitten in den Kampf geworfen«, sagte Alexei. »Und du hast dafür gesorgt, dass Oliver und ich die Waffen bekamen, die wir brauchten, um uns zu verteidigen.«
»Du hättest dasselbe für mich getan, für jeden Krieger.«
Er schüttelte den Kopf. »Da bin ich mir nicht so sicher. Mein Befehl lautete, dich im Auge zu behalten – sonst nichts.«
»Hast du deswegen heute Morgen im Speisesaal nichts unternommen? Und auch als diese Kerle vor der Bibliothek mich mit Dosen beworfen haben? Weil Linus dir befohlen hat, dich nicht einzumischen?«
Er nickte.
»Und jetzt?«
Er zuckte mit den Achseln. »Jetzt weiß ich nicht, was ich denken soll.«
Sergei winkte seinem Sohn, und Alexei ging zu seinem Vater. Nun, das war keine echte Entschuldigung dafür, dass er nur zugesehen hatte, während ich bedroht wurde, aber es war ein Anfang. Im Moment nahm ich, was ich kriegen konnte. Denn ich hatte das starke Gefühl, dass alles noch viel schlimmer kommen würde, bevor es wieder besser wurde – wenn das überhaupt jemals geschah.
Endlich, eine Stunde später, hatten alle vor
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