Frostglut
verbalen Attacken der anderen Schüler von dem Prozess abgelenkt. Aber gestern hatte Linus erklärt, dass die Verhandlung heute nach dem Unterricht stattfinden würde. Den ganzen Tag starrte ich auf jede Uhr und beobachtete, wie die Stunden und Minuten vergingen, bis mir letztendlich die Zeit davonlief.
Dann erklang der letzte Gong des Tages und verkündete das Ende von Mythengeschichte. Ich blieb sitzen und wartete, bis alle anderen Schüler gegangen waren, bevor ich aufstand. Wieder einmal hielt ich meine Miene ausdruckslos. Meine Bewegungen allerdings waren langsam und steif, und ich fühlte mich, als hätte jemand Knoten in meine Eingeweide geknüpft. Alexei stand in der Ecke und beobachtete mich, wie er es schon den ganzen Tag tat.
Metis schob ihre Unterlagen in ihre Tasche und drehte sich zu mir um. »Es ist Zeit«, sagte sie. »Bitte folge mir.«
Ich nickte, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte – nicht wusste, was ich sonst tun konnte, außer den Mund zu öffnen und wieder einmal darauf zu beharren, dass das Protektorat falschlag und ich auf keinen Fall ein Schnitter war.
Ich warf mir den Gurt meiner Tasche über die Schulter. Ohne Vic kam sie mir leicht vor, fast wie leer. Ich hatte das Schwert nach dem Sportunterricht zurück in mein Zimmer gebracht. Ich wollte nicht, dass Vic sich während des Prozesses zu Wort meldete und damit riskierte, dass das Protektorat ihn mir abnahm. Natürlich hatte Vic sich darüber beschwert, zurückgelassen zu werden …
»Gwen?«, fragte Metis. »Geht es dir gut?«
»Sicher«, antwortete ich. »Einfach toll. Lassen Sie es uns hinter uns bringen.«
Ich folgte Metis aus dem Klassenzimmer, ans Ende des Flurs und dann nach draußen. Alexei blieb hinter mir. Am Fuß der Treppe vor dem Gebäude für Englisch und Geschichte warteten Sergei und Inari, wahrscheinlich, um mich von einem Fluchtversuch abzuhalten.
Die beiden Männer nahmen mich in die Mitte, während Metis vorausging und Alexei die Nachhut bildete. Schweigend überquerten wir den Platz, während alle uns anstarrten und hinter uns sofort das Getuschel begann.
Daphne, Carson, Logan und Oliver hielten sich ebenfalls auf dem oberen Hof auf, direkt vor dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gebäude. Meine Freunde blickten mich besorgt an. Sie durften dem Prozess nicht beiwohnen, also war das der einzige Rückhalt, den sie mir geben konnten. Ich warf ihnen ein Lächeln zu, als würde alles in Ordnung kommen. Allerdings hielt ich nicht an, um mit ihnen zu sprechen. Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen coolen Auftritt durchziehen konnte, wenn ich das tat.
Also stapfte ich die Stufen nach oben und betrat mit den anderen das Gebäude. Dann ging es runter, runter und noch tiefer runter, während Metis Zahlencodes eintippte und verschiedenen Hokuspokus intonierte, wann immer es nötig war.
Viel zu bald erreichten wir das unterste Geschoss und standen vor der Tür, die zum Akademiegefängnis führte. Ich beäugte die Sphinxe, die in den Stein gemeißelt waren, aber wieder einmal starrten die Kreaturen ihre Füße an, nicht mich.
Metis benutzte ihren Schlüssel, um die Tür zu öffnen, und für einen Moment fühlte ich Sergeis Hand an meinem Arm. Sanft schob er mich vorwärts. Ich schluckte schwer und trat durch den Türrahmen.
Das Gefängnis sah aus wie immer – Ravens Schreibtisch in einer Ecke, gläserne Zellen über mehrere Stockwerke, das Relief einer Hand mit austarierter Waage an der Decke. Aber es gab zwei Veränderungen. Ein steinerner Befragungstisch stand an derselben Stelle wie der alte, allerdings war dieser doppelt so groß wie der, an dem Preston immer gesessen hatte. Aber am meisten interessierte mich ein zweiter Tisch, der am anderen Ende des Raums aufgestellt worden war. Zusammen bildeten die beiden ein grobes T, mit dem zweiten Tisch als Oberstrich des Buchstabens. Der zweite Tisch stand außerdem auf einem steinernen Podium, sodass er über den anderen aufragte. Hinter ihm entdeckte ich sieben Stühle. Dort würde also meine Jury sitzen, dachte ich bitter. Sie würde von oben auf mich heruntersehen und über mich urteilen.
Eine Hand berührte meine Schulter, und ich hörte ein vertrautes Klingeln. Ich drehte mich um, und da war Grandma Frost. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug mit ihren üblichen schwarzen Schuhen und hatte sich ein violettes Tuch um den Hals geschlungen, ein weiteres bedeckte ihr Haar. Die Silbermünzen an den Fransen glitzerten im Licht.
»Grandma!«, rief ich
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