Frostglut
blinzelte, und dann war das Relief einfach wieder ein Relief, und die Waage befand sich perfekt im Gleichgewicht. Manchmal ließ meine Gypsygabe mich Dinge sehen, die nicht wirklich da waren. Zum Beispiel erwachten regelmäßig Bilder in meinem Mythengeschichtsbuch zum Leben. Aber diese sich neigende Waage war unheimlich gewesen, selbst für Mythos-Verhältnisse. Ich zitterte und senkte den Blick. Vielleicht war ich auch einfach besonders empfindlich, weil so viel auf dem Spiel stand – nämlich mein Leben.
Endlich waren alle Papiere geordnet, und alle Blicke richteten sich auf mich. Grandma Frost packte meine Hand fester und ließ mich damit wissen, dass sie für mich da war, was auch geschah. Sanft erwiderte ich den Druck.
Wieder schlug Linus mit dem Hammer auf den Tisch. »Lasst uns beginnen«, sagte er. »Holt den Korb.«
Korb? Was für ein Korb?
Raven stand auf, stieg die Stufen des Podiums nach unten und ging zu einer der Zellen. Sie tippte einen Code ein, und die Glastür öffnete sich mit einem Zischen. Die alte Frau trat in die Zelle, beugte sich vor und hob einen kleinen Weidenkorb auf, den ich zuvor nicht bemerkt hatte. Sie trug den Korb zu dem Steintisch, an dem ich saß. Dann warf Raven einen kurzen Blick über die Schulter zu Linus, der ihr auffordernd zunickte.
Die alte Frau öffnete den Deckel des Korbes, schob ihre Hand hinein und zog eine Schlange heraus.
Ich keuchte auf und warf mich auf meinem Stuhl nach hinten.
»Ruhig, Gwendolyn«, sagte Nickamedes leise. »Das ist ein normaler Teil des Prozesses. Mach dir keine Sorgen. Du hast nichts zu befürchten.«
»Und jetzt«, sagte Linus. »Kettet das Mädchen an den Tisch.«
»Mich festketten?«, fragte ich. »Warum?«
Er ignorierte meine Frage. »Ajax, wenn du so freundlich wärst.«
Trainer Ajax griff nach etwas unter dem Tisch. Er stand auf, und ich erkannte, dass der Lehrer Handschellen hielt, die mit einer langen Kette verbunden waren. Ajax kam zum Befragungstisch und legte die Schellen mit der Kette auf die Steinplatte. Das harsche Klappern und Klirren des Metalls sorgte dafür, dass ich das Gesicht verzog.
»Streck deine Hände aus, Gwen«, forderte der Trainer mich auf. »Bitte.«
Ich biss mir auf die Lippen, während ich zu Grandma und Nickamedes sah. Beide nickten und erklärten damit, dass ich es tun musste. Widerwillig hob ich die Arme. Ajax legte die Handschellen um meine Handgelenke, dann befestigte er sie und die Kette an einem Steinring am Tisch.
Ich holte tief Luft, während ich darauf wartete, dass meine Psychometrie sich einschaltete und mir all die schrecklichen Erinnerungen zeigte … von jedem, der die Handschellen vor mir getragen hatte. Aber nichts geschah. Ich empfing ein Bild davon, wie die Handschellen gefertigt wurden, und dann fühlte ich, mit wie viel Bedauern Ajax sie berührt hatte. Das war’s. Mit den Schellen oder der Kette waren keine anderen Erinnerungen, keine anderen Gefühle verbunden. Erleichtert stieß ich die Luft aus.
»Ich habe sichergestellt, dass sie ganz neu sind«, erklärte Ajax leise. »Und auf keinen Fall diejenigen, die bei Preston verwendet wurden.«
Ich nickte, dankbar für seine Umsicht. Ich war unzählige Male in Prestons Kopf eingedrungen. Trotzdem hatte ich keinerlei Bedürfnis, das zu spüren, was er empfunden hatte, während er an den Befragungstisch gefesselt gewesen war. Ich wollte all seine Wut und seinen Hass auf mich nicht erleben müssen.
Linus winkte Raven, und die Frau trat mit der Schlange in der Hand nach vorne. Noch bevor ich den Mund öffnen konnte, um zu fragen, was sie da tat, hielt Raven mir die Kreatur auch schon entgegen, und die Schlange vergrub ihre Giftzähne in meinem rechten Handgelenk.
»Aua!«, kreischte ich. »Sie hat mich gebissen!«
Ich riss die Hand so weit nach hinten, wie es eben möglich war, und starrte auf mein Handgelenk. Zwei Tropfen Blut drangen aus den winzigen Wunden und fielen auf den Tisch. Der Stein sog die scharlachrote Flüssigkeit auf wie ein Schwamm. Ich rechnete damit, dass die Wunden anfangen würden zu pulsieren, aber zu meiner Überraschung taten sie fast gar nicht weh. Stattdessen war es nur ein … leicht unangenehmes Gefühl, als hätte jemand zwei Injektionsnadeln unter meine Haut geschoben. Außerdem fühlte ich eine Kühle durch meinen Körper fließen wie von einem Medikament, das man mir injiziert hatte.
Raven legte die Schlange direkt vor mir auf den Tisch. Für einen Moment glaubte ich schon, das Tier würde
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