Frostglut
mich wieder beißen, aber stattdessen ignorierte es mich, als hätte es seine Aufgabe erledigt. Bis jetzt war mir das nicht aufgefallen, aber in den Tisch war ein kleiner Kreis eingehauen. Die Schlange schmiegte sich in die Vertiefung, als wäre sie ihr vertraut, als gehöre sie dorthin. Der lange Körper rollte sich zusammen, bis der Kopf der Schlange schließlich auf dem Tisch liegen blieb – nur wenige Zentimeter von meinen Fingern entfernt.
»Das ist eine Maat-Natter«, erklärte Linus. »Benannt nach der ägyptischen Göttin der Wahrheit. Über die Jahre hat das Pantheon herausgefunden, dass das Gift der Natter einen ungewöhnlichen Effekt hat. Es dient als eine Art Wahrheitsserum und ermuntert Leute dazu, ehrlich zu antworten – oder die Konsequenzen zu erleiden.«
Nun, das war wahrscheinlich dieses kalte Gefühl, das sich immer weiter in meinem Körper ausbreitete. »Die Konsequenzen?«, fragte ich. »Welche Konsequenzen?«
»Wenn man die Wahrheit sagt, ist das Gift harmlos, und der Körper wird es in ein paar Stunden abbauen«, sagte Linus.
»Und wenn man lügt?«
»Jedes Mal, wenn man eine Lüge erzählt, erhitzt sich das Gift wie flüssiges Feuer ein wenig mehr in den Adern, bis es sich anfühlt, als würde man von innen heraus verbrennen«, antwortete Linus. »Nach allem, was ich bisher gesehen habe, ist das sehr schmerzhaft.«
Also wollten sie die Wahrheit aus mir herausfoltern. In der Tat eine Feuerprobe. Super. Einfach super.
»Die Nattern selbst haben ebenfalls eine ungewöhnliche Fähigkeit«, fuhr Linus fort. »Sie spüren, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht, und dementsprechend benehmen sie sich.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte ich.
»Wenn jemand die Wahrheit sagt, wird die Natter demjenigen nichts antun«, erklärte er. »Aber wenn jemand lügt, regt das die Natter ziemlich auf. Je größer die Lüge, desto aufgeregter wird die Natter … bis sie den Lügner beißt. Dieser zweite Biss aktiviert sofort das Gift, das sich bereits in den Adern befindet. Die meisten Betroffenen empfinden den Tod als Gnade. Diejenigen, die glücklich – oder unglücklich – genug sind, einen zweiten Maat-Biss zu überleben, wünschen sich oft, sie wären gestorben.«
»Und warum?« Ich konnte die Frage einfach nicht zurückhalten.
»Die Nebenwirkungen sind schrecklich und reichen von dauerhafter Lähmung bis zu verfaulenden Gliedmaßen«, erläuterte Linus. »Das ist bei jeder Person anders. Niemand weiß genau, warum das so funktioniert, allerdings passt die Bestrafung ironischerweise meistens zum Verbrechen. Bei einem Schnitter zum Beispiel, der beim Diebstahl von Artefakten erwischt wurde und dann darüber lügt, sorgt der Natternbiss gewöhnlich dafür, dass ein oder zwei Finger abfaulen. Manchmal auch die gesamte Hand oder der Arm. Wie ich schon sagte, die meisten Schnitter, die den zweiten Biss überleben, wünschen sich, sie wären gestorben – oder sie wünschen sich, sie hätten mir von Anfang an die Wahrheit gesagt.«
Ich beäugte die Schlange. Ich hatte schon Nemeischen Pirschern, Fenriswölfen und selbst einem Schwarzen Rock Auge in Auge gegenübergestanden. Im Vergleich zu diesen anderen, riesenhaften mythologischen Kreaturen wirkte die Maat-Natter wie eine harmlose Gartenschlange. Tatsächlich waren die schimmernden, blaugoldenen Schuppen elegant und hübsch, fast wie ein juwelenbesetztes Armband. Die Kreatur sah mich schläfrig an, und ihre Augen zeigten dasselbe tiefe Blau wie ihre Schuppen. Eine schwarze Zunge glitt aus ihrem Maul und kostete die Luft. Ich fragte mich, ob die Schlange meine Angst spüren konnte. Ich strahlte das Gefühl wahrscheinlich ebenso sehr aus, wie meine Mitschüler es in den letzten Tagen mit ihrer Wut getan hatten.
»Solange Sie die Wahrheit sagen, wird Ihnen nichts geschehen, Miss Frost«, fuhr Linus fort. »Denken Sie nur immer daran, dass Sie uns auf eigene Gefahr anlügen.«
Ja, ja, diesen Punkt hatte ich jetzt wirklich verstanden. Ich schluckte und sah Grandma Frost an, die mir aufmunternd die Schulter tätschelte.
»Es ist okay, Süße«, sagte sie. »Dieser klitzekleine Schlangenbiss kann dir nichts anhaben, weil du unschuldig bist. Diese Narren werden das bald begreifen.«
Linus zog die Augenbrauen hoch, und Grandma lächelte ihn ruhig an. Dann schob der Leiter des Protektorats noch ein paar Papiere über den Tisch, bevor er mich wieder ansah.
»Nun, Miss Frost«, sagte er. »Die erste Anschuldigung gegen Sie lautet, dass Sie eine andere
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