Frostherz: Mythos Academy 3 (German Edition)
lässt dich schattengleich und mysteriös wirken.«
Die Wölfin saß eine Sekunde nur da, dann breitete sich ein glückliches Grinsen auf ihrem Gesicht aus, während ihre Zunge zur Seite rollte und aus dem Maul hing. Sie hatte dasselbe Rostrot wie ihre Augen, anstelle des Blutrots, an das ich mich erinnerte.
»Dann bleibt es bei Nott«, verkündete ich.
Die Wölfin lehnte sich vor und leckte mir die Wange. Ich lachte und stieß sie spielerisch von mir, bevor ich aufstand und das Zimmer verließ.
Zuerst ging ich in den Speisesaal, griff mir ein Tablett und belud es bis oben hin mit jedem fleischhaltigen Gericht auf der Speisekarte. Das Angebot heute Abend beinhaltete gebratene Lammkeule, gegrilltes Filet Mignon und große Haufen Spaghetti mit würzigen Fleischbällchen aus Kalb. Ich weiß, ich weiß, man soll Tiere eigentlich nicht mit Menschenessen füttern. Aber Nott war eine mythologische Kreatur, eine, die tatsächlich Leute fressen konnte. Also ging ich davon aus, dass das Fleisch schon in Ordnung war. Außerdem war es das Beste, was ich heute Abend auftreiben konnte.
Der Koch, der das Essen für mich in eine braune Papiertüte packte, warf mir ein paar seltsame Blicke zu, während er sich anscheinend fragte, wie viel ich meiner Meinung nach auf einmal essen konnte. Aber ich schenkte ihm nur ein unverbindliches Lächeln. Ich konnte nur hoffen, dass Nott Kalb lieber mochte als ich. Igitt.
Ich war so mit der Wölfin beschäftigt gewesen, dass ich jedes Zeitgefühl verloren hatte, und ich musste rennen, um es noch rechtzeitig zu meiner Schicht in der Bibliothek der Altertümer zu schaffen. Die Bibliothek lag am höchsten Punkt des oberen Hofes, an der obersten Spitze des Sterns aus Gebäuden, und neben ihr wirkte alles andere winzig. Sie hatte einfach am meisten von allem – die meisten Fenster, die meisten Balkone, die meisten Türme.
Die meisten Statuen.
Metis’ Vortrag zufolge konnte man an der Bibliothek mehr Statuen finden als an jedem anderen Gebäude auf dem Campus. Mythologische Kreaturen überzogen förmlich die Fassade, von dem Arkadengang, der sich einmal um das Gebäude zog, bis zu den speerartigen Spitzen der Türme im sechsten und obersten Geschoss. Ich wurde langsamer, dann hielt ich vor den Stufen zur Bibliothek an, um die Greifen anzustarren, die rechts und links davon hockten.
Die Statuen sahen genauso aus wie in meinem Mythengeschichtsbuch. Adlerköpfe, Löwenkörper, Killerklauen, gebogene Schnäbel. Sie ragten über mir auf. Ihre Silhouetten hoben sich scharf gegen den grauen, trostlosen Winterhimmel ab, während ihre lidlosen Augen mich musterten und jedem meiner Schritte folgten.
In mir stieg das Bild meiner Mom auf, das ich gesehen hatte, als ich ihr Tagebuch angefasst hatte. Wie sie zwischen den beiden Greifen auf den Bibliotheksstufen gesessen hatte. Ich fragte mich, was meine Mom wohl von den Statuen gehalten hatte – und ob sie sie genauso unheimlich gefunden hatte wie ich. Sogar noch mehr als bei den Sphinxen, welche die Tore bewachten, hatte ich bei den Greifen immer das Gefühl, dass sie nur eine Haaresbreite davon entfernt waren, zum Leben zu erwachen, ihre Steinhüllen abzuschütteln und mich in blutige Stücke zu reißen.
Ich verdrängte diesen verstörenden Gedanken, um die Stufen nach oben zu steigen, die Tür zu durchqueren und einen Flur entlangzugehen, bevor ich eine offene Doppeltür durchschritt. Ein Regalgang zog sich bis zur Mitte der Bibliothek, dann öffnete er sich zu einem weiten Raum mit Tischen, an denen Schüler sitzen und lernen konnten. Die mit Glas abgetrennten Büros der Bibliothekare lagen dahinter.
Doch statt den Gang entlang zu meinem üblichen Platz hinter dem Ausleihschalter zu gehen, drehte ich mich um und wanderte zwischen den Regalen hindurch, bis ich eine ganz bestimmte Stelle erreichte. Früher hatte hier eine Vitrine gestanden, und zwar die Vitrine, aus der ich bei meinem verzweifelten Kampf auf Leben und Tod gegen Jasmine mein Schwert Vic geholt hatte. Natürlich war die Vitrine verschwunden. Immerhin hatte die böse Walküre sie in Stücke geschlagen. Aber deswegen war ich sowieso nicht hier.
Nein, ich war hier, um eine Göttin zu besuchen.
Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte zu einer Figur über mir. Um den ersten Stock zog sich eine Galerie, und schlanke Säulen trennten Statuen aller Götter und Göttinnen aus allen Kulturen der Welt voneinander. Griechische Götter wie Psyche und Persephone. Gottheiten der amerikanischen
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