Frostherz: Mythos Academy 3 (German Edition)
hatten. Ich wollte mich der Magie würdig erweisen, die die Göttin mir geschenkt hatte. Und den Dolch vor den Schnittern zu schützen war ein Weg, wie ich genau das erreichen konnte.
Aber zuerst musste ich den Dolch finden. Die Statue war bis jetzt meine beste Spur – und vielleicht meine letzte Chance. Ich musste mich nur vorlehnen und den Stein berühren, und dann bekäme ich die Antworten auf meine Fragen – auf die eine oder andere Art.
Mit klopfendem Herzen atmete ich tief durch, legte die Finger auf den kalten Stein und wartete darauf, dass meine Magie zum Leben erwachte – und mit ihr vielleicht auch der Greif.
Sofort fluteten Bilder und Erinnerungen meinen Geist wie eine Flutwelle, die alles andere fortschwemmte.
Ich empfing das Gefühl, dass der Greif alt war, sogar uralt, auf dieselbe Weise wie Vic. Und wie bei Vic gab es einen … einen Funken in der Statue, irgendeine Art von Macht oder Geist. Ich spürte, wie er mich von tief aus dem Stein anstarrte. Die Macht erinnerte mich an die brennenden roten Augen – Lokis Augen –, die mich beobachteten, wann immer ich meine Psychometrie einsetzte, um in Prestons Geist vorzudringen. Doch die Statue strahlte nicht dieselbe Niedertracht aus wie der Schnitter und die scharlachroten Augen. Stattdessen fühlte ich eine … wachsame Gegenwart. Als bewachte der Greif nicht nur die Bibliothek, sondern auch alle Schüler, die täglich an ihm vorbeikamen, und sogar die Akademie im Ganzen, genau wie Metis gesagt hatte. Das sorgte dafür, dass sich ein Gefühl von Frieden und Geborgenheit in mir ausbreitete.
Ich stand mit geschlossenen Augen da, die Hand an den kalten Stein gepresst, und versuchte aus all den Bildern schlau zu werden, die durch meinen Kopf schossen. Es waren Tausende, die bis weit in die Vergangenheit zurückreichten. Jahreszeiten kamen und gingen in einem Moment. Schmelzender Schnee führte in den Frühling, die Sommersonne brannte vom Himmel, Herbstblätter wehten vorbei, und dann kam der Schnee zurück. Durch alle Jahreszeiten, in all den langen Jahren, lehnten sich Schüler an die Statue und gingen daran vorbei. Ein paar klebten sogar ihren Kaugummi daran. Igitt.
Nach ein paar Sekunden verblasste die erste Flut von Erinnerungen und Gefühlen und verwandelte sich in einen stetigen Fluss. Jetzt konnte ich die Bilder sortieren und nach einem bestimmten Moment mit einer bestimmten Person suchen. Ich ignorierte jedes Aufblitzen von Jungs, die den Greif berührten, sich an ihn lehnten oder auf ihm saßen, und konzentrierte mich stattdessen auf all die Mädchen, die sich über all die Jahre in der Nähe des Greifen aufgehalten hatten. Nicht sie oder sie oder sie … aber sie!
Fast wäre die Erinnerung vorbeigeglitten, doch ich packte sie gerade noch, bevor sie in den Tiefen meines Geistes verschwand. Ich ignorierte die anderen vorbeirauschenden Bilder und konzentrierte mich vollkommen auf das eine, das ich gesucht hatte.
Ich sah einen kalten Abend, der dem heutigen ähnelte. Ein Mädchen in meinem Alter stand vor der Greifenstatue. Braunes Haar, violette Augen, mit Sommersprossen übersäte helle Haut. Ihr Gesicht war mir so vertraut wie mein eigenes, auch wenn ich niemals so schön werden würde wie sie.
»Mom«, flüsterte ich, obwohl sie mich nicht hören konnte, obwohl sie nur eine Erinnerung war.
Meine Mom blickte über den leeren Hof und musterte jeden Schatten. Purpurne Augen sind lächelnde Augen. Das hatte sie immer scherzhaft gesagt, aber an diesem Abend lächelte sie nicht. Stattdessen waren ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst, und ihr gesamter Körper war steif vor Anspannung und Angst – Angst, dass die Schnitter sie finden würden, bevor sie ihre Mission für Nike zu Ende bringen konnte. Meine Mom hatte das Gefühl, dass ihr die Zeit davonlief. Trotzdem zögerte sie einen Moment und sah sich um. Sie wollte so vorsichtig sein wie nur möglich.
Als sie sich vergewissert hatte, dass sie allein war und niemand sie beobachtete, zog meine Mom ein in schwarzen Stoff gehülltes Bündel aus ihrem Rucksack. Sie legte den Stoff auf die Stufen zur Bibliothek, und etwas, das darunter hervorlugte, kratzte über den Stein. Meine Mom erstarrte, und ihr Blick huschte unsicher von rechts nach links, als könnte dieses winzige Geräusch die Schnitter sofort zu ihr führen.
Doch niemand sprang aus den Schatten, und nach einer Weile entspannte sie sich und wandte sich wieder der Statue zu. Sie ließ die Hände über den Greifen
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