Frostherz
machte kleine Schritte rückwärts. Sein Mundgeruch war ihr unangenehm. Er trat dichter an sie heran.
»Ja, irgendwann will er es wohl schon verkaufen.«
»Vielleicht könnte ich es mal ansehen? Ich glaube, es wäre genau das Richtige für meine Frau. Sie wird bald keine Treppen mehr steigen können, aber eine Wohnung irgendwo kommt für uns auch nicht infrage. Ich habe das Haus als sehr geräumig in Erinnerung. Ich kenne es natürlich nur von außen. Könntest du deinen Vater fragen?«
Anne nickte und tippte auf ihre Uhr. »Mach ich, gerne, aber ich muss jetzt zur Chorprobe, entschuldigen Sie mich, bitte!« Und dann ging sie einfach.
Eigentlich mochte sie die Dienstage immer am liebsten – wegen der Chorprobe. Erstens fuhr sie später nach Hause und zweitens liebte sie das Singen. Dabei fühlte sie sich frei, als könne sie mit den Noten davonfliegen in unbekannte Welten.
Fritz von Derking überholte sie auf dem Weg zum Musikzimmer. »Beeilung, junges Fräulein«, rief er ihr im Vorbeigehen zu und sie wunderte sich, wie er – obwohl klein und korpulent, so schnell sein konnte. Sogar im Laufen zupfte er an seinem Spitzbart herum, die schon grau melierten Haare standen wie immer wirr vom Kopf ab. Die Nase, auf die der Rest seines Gesichtes zudrängte, stach mit roter Spitze vorwitzig in die Luft, als hacke er nach etwas. Und dann sang er dabei noch, sie konnte die Worte kaum verstehen, »... reicht nun nicht mehr der Englein Macht, der liebe Gott hält selbst die Wacht«, sang er. Schumann also, erkannte sie.
Außer Atem kam sie im Probenraum an. Immerhin war sie nicht die Letzte. Die erste Viertelstunde schwadronierte von Derking wieder über die Erlebnisse mit dem Cäcilien-Knabenchor und Anne musste an das Buch ihrer Großmutter denken. Ob von Derking wusste, wer aus ihrer Familie mal dabei gewesen war? Aber es wäre zu peinlich gewesen, ihn zu fragen. Endlich begannen sie zu singen und Annes Herz öffnete sich. Warm flossen die Töne aus ihrem Mund. Obwohl es nur Tonleitern waren, fühlte sie sich endlich geborgen und sicher. Solange sie sang, konnte ihr nichts passieren.
»Ich hoffe, ihr übt alle fleißig für das Schulfest in drei Wochen«, sagte er nach dem ersten Kanon. »Wir werden bis dahin noch einige zusätzliche Proben einlegen müssen. Manches klingt ja noch ziemlich jämmerlich! Aber jetzt möchte ich euch sagen, wie ich die Soloparts zu besetzen gedenke. Also, die Tenorpassage in dem Schumann singt Peter Bauer. Den Alt im Strauß Barbara Tanner. Den Sopran im Reger…«
»Anne Jänisch«, riefen ein paar Mädchen und die Missbilligung in ihren Stimmen war nicht zu überhören.
»Schön, dann hätten wir das«, sagte von Derking und wandte sich Arndt Klein zu, einem pickligen Zehntklässler, der den Chor auf dem Klavier begleitete. »Und jetzt den Kammerton bitte.«
»Ist hier noch frei?«, sagte er rein rhetorisch und ließ sich auf den freien Platz neben Anne sinken. Augenblicklich fuhr der Bus los. Anne spürte, wie ihr Gesicht rot wurde. Sie ruckelte an ihrer Brille.
»Wie geht’s?«, fragte Cornelius freundlich.
Anne hob die Schultern. »Wie immer.«
»Hast du vielleicht wieder einen Tee für mich?«
Er musterte sie unverhohlen. Anne schüttelte den Kopf und drehte eine Haarsträhne um ihre Finger.
»Was ist los, Anne?«, fragte er nun ganz offen. Er presste seine Knie gegen den Vordersitz, zusammengefaltet wie ein Klappmesser sah der schlaksige Typ aus. Anne holte tief Luft. Aber es kam nichts. Was sollte sie auch sagen.
»Ich bleib dir so lange auf den Fersen, bis du es mir erklärst.«
»Da gibt es nichts zu erklären.«
»Doch, das gibt es. Warum darf ich nicht in euer Haus?«
Anne sah ihn verblüfft an. Dass er so direkt war… Seine braunen Augen waren heute schillernd grün. Es hätte sie nicht gewundert, wenn aus seinem Mundwinkel ein Vampirzahn geblitzt hätte. Sein Drei-Tage-Bart gab ihm etwas Finsteres.
»Hey, weißt du was«, versuchte Cornelius das Gespräch weiterzuführen. »Ich mag dich. Ich find dich interessant. Und ich fände es super, wenn ich mit dir ganz normal Kaffee trinken oder ins Kino gehen könnte. So.« Er schaute ein wenig trotzig drein, wie ein Grundschüler mit Bartstoppeln. Anne musste lächeln.
»Na, geht doch«, kommentierte er sofort.
»Wir können gerne mal einen Film anschauen«, sagte Anne leise. Mit ihrem Vater war sie schon oft im Kino gewesen. Einmal waren sie sogar zu dritt gegangen: Anne, Johann und seine damalige Freundin
Weitere Kostenlose Bücher