Frostherz
Martha. Wie eine richtige Familie. Aber Anne war es peinlich gewesen, dass Martha die ganze Zeit mit Johann Händchen halten wollte. Und Johann war es wohl ebenfalls unangenehm. Martha war von Johanns Zurückhaltung so genervt gewesen, dass sie ihn keine zwei Wochen später schon wieder verlassen hatte. Wie einige ihrer Vorgängerinnen oder Nachfolgerinnen auch.
»Samstag?«
»Ich muss fragen.«
Cornelius ließ den Kopf gegen den Vordersitz fallen. »Ich dachte, du bist 17! Warum musst du da fragen?«
»Ist halt so bei uns. Ist doch nicht schlimm. Vermutlich lässt er mich ja gehen.«
»Bibi Blocksberg in der Nachmittagsvorstellung?« Er lehnte sich zurück.
»Sei nicht gemein.«
Cornelius räusperte sich. »Mann, Anne, so wie du lebst, das ist nicht normal. Echt nicht.«
Sie wusste genau, dass er recht hatte. Doch sobald sie anfing, darüber nachzudenken, versteinerte etwas in ihr. Also tat sie es nicht. Sie wollte Cornelius wegjagen, ihn daran hindern, die Steinmauer in ihr zum Einsturz zu bringen. Denn sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, was dahinter zum Vorschein kommen würde. Etwas Schlimmes, etwas Unsägliches, vermutete sie. Etwas, das weit darüber hinausging, dass ihr Vater sich Sorgen um sie machte. Aber sie wollte nichts davon wissen.
»Ich muss jetzt aussteigen«, sagte sie. Er sprang auf. Als sie auf die Straße trat, folgte er, natürlich. Mit seinen langen Beinen fiel es ihm leicht, Schritt mit ihr zu halten.
»Komm schon, Anne.« Jetzt flehte er fast. »Du kannst mir doch vertrauen.«
Sie spürte Tränen aufsteigen. Wie gerne hätte sie ihm vertraut. Ihm alles anvertraut. Dort vorne lagen die Reihenhäuser. Das letzte davon, das war ihr Ziel. Sie würde die Tür zumachen, in die Kamera lächeln und froh sein, dass sie die Welt ausgesperrt hatte. Sie brauchte doch niemanden. Nur Johann, ihren Papa.
»Geh! Verschwinde«, rief sie ihm zu, als sei er ein aufdringlicher, hungriger Straßenköter. Sie beschleunigte ihren Schritt noch mehr. Endlich blieb er stehen, mit hängenden Armen.
»Ich werde dich da rausholen«, schrie er ihr nach. Es klang wie eine Drohung.
»Heute hat mich dein Lateinlehrer angerufen«, sagte Johann beim Abendessen. Grüner Spargel mit Ziegenkäse überbacken, dazu Salzkartoffeln. Anne schob die Stangen hin und her. Sie hatte überhaupt keinen Appetit.
»Hast du ihm gesagt, dass ich Annemaries Haus verkaufen will?«
Anne schüttelte den Kopf. »Nein, er wusste aus der Zeitung, dass sie gestorben ist, und hat gefragt, ob er es mal anschauen kann. Seine Frau ist wohl ziemlich krank und er sucht etwas mit großem Erdgeschoss, damit sie keine Treppen mehr steigen muss. Lass es ihn doch anschauen.«
»Ich weiß nicht. Ich finde, er klang nicht sonderlich sympathisch. Schmeckt dir der Spargel nicht?«
»Er ist ganz okay. Rosen meine ich. Der Spargel auch.« Sie lächelte gequält und schob sich ein Stück in den Mund, kaute verdrossen auf den Fasern herum. Sie hatte den Rest des Nachmittags am Schreibtisch gesessen und auf ihre Bücher gestarrt. Wie gelähmt. Im Gehirn gelähmt.
»Meinst du nicht, es wäre gut, das Haus bald zu verkaufen? Allein wegen des Geldes?«
Johanns Augenbrauen zogen sich zusammen, seine Augen wirkten dunkler.
»Darum musst du dir keine Gedanken machen. Wir brauchen Omas Geld nicht. Wir kommen auch so klar.«
»Dann kannst du mir ja das Geld für die Klassenfa...« Weiter kam sie nicht.
Johann ließ laut die Gabel auf den Teller fallen. »Schluss jetzt. Wenn es unbedingt sein muss, zeige ich ihm das Haus. Aber er soll nicht meinen, dass ich auch sofort verkaufe. Das will alles gut überlegt sein. Und jetzt geh bitte in dein Zimmer. Ich habe Kopfschmerzen, ich muss mich ausruhen.«
Um Punkt 16.00 Uhr fuhr am Samstagnachmittag der weiße Audi A5 von Hermann Rosen in der Gartenstraße vor. Zu Annes Entsetzen stieg nicht nur ihr Lehrer aus, sondern auch sein Sohn. Seit ihrem Gespräch im Bus hatte sie ihn in der Schule einfach ignoriert. Es war ihr zwar schwergefallen, aber es war sicher zu ihrem Besten. Cornelius trug heute unter seinem obligatorischen dunkelblauen Jackett mit den Goldknöpfen ein weißes T-Shirt, bedruckt mit eng beieinanderliegenden schwarzen Streifen, zwischen denen, wenn man genau hinsah, ein Totenkopf zu erkennen war.
Anne sah ihrem Vater an, dass ihm Rosen und sein Sohn vom ersten Augenblick an unsympathisch waren. Die beiden Männer kannten sich nicht. Dank Annes guter Schulnoten waren Gespräche ihres Vaters
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