Frostnacht
ihr reden sollen, anstatt mich so abweisend aufzuführen. Ich habe mich abfällig über ihr Verhalten geäußert. Und dann war es nicht einmal sie.«
Elínborg schüttelte den Kopf.
»Diese Frau hat mich angerufen, damit ich sie darin bestärke, uns weiterzuhelfen, weil sie meinte, dass es das Beste für sie wäre. Stattdessen habe ich sie abgeblockt. Sie weiß etwas über den Mord an Elías. Eine Frau unbestimmten Alters mit einer leicht heiseren Stimme, möglicherweise, weil sie raucht. Im Nachhinein wird mir erst klar, wie besorgt und angstvoll sie klang. Ich war überzeugt, die beiden hätten da irgendein Spielchen inszeniert, die vermisste Frau und ihr Mann. Ich hab das nicht kapiert, ich wusste nicht, was das sollte, und ließ mich dadurch nerven. Und jetzt stellt sich heraus, dass ich vollkommen danebenlag. Ganz und gar.«
»Aber was steckte dann dahinter? Warum ist sie ins Meer gegangen?«
»Ich glaube …« Erlendur verstummte.
»Was?«
»Ich glaube, sie hat ihn geliebt. Sie hatte alles für die Liebe geopfert: Familie, Kinder, Freunde, alles. Irgendjemand hat ausgesagt, dass sie sich verändert hätte. Als wäre sie auf einmal aufgeblüht und genösse das Leben in vollen Zügen, als sei sie endlich zu sich selbst gekommen.«
Erlendur verstummte wieder und starrte gedankenverloren in die Ferne.
»Und? Was ist dann passiert?«
»Sie hat herausgefunden, dass sie betrogen wurde. Ihr Mann ging wieder fremd. Sie fühlte sich gedemütigt. Ihr ganzes … Alles, was sie getan hatte, alles, was sie geopfert hatte, für nichts und wieder nichts.«
»Ich habe von solchen Männern gehört«, sagte Elínborg. »Die gehen eine Weile im Liebesrausch auf, aber wenn der abflaut, sind sie sofort hinter einer Neuen her.«
»Ihre Liebe war echt«, sagte Erlendur. »Sie ertrug es nicht, als sie herausfand, dass sie nicht erwidert wurde.«
Fünfundzwanzig
Sigurður Óli betätigte die Klingel in einem vierstöckigen Haus ganz in der Nähe der Schule. Er stand vor der Haustür, wartete eine Weile, klingelte dann wieder und versuchte, sich warm zu halten, indem er von einem Fuß auf den anderen trat. In der Nische beim Eingang pfiff der Wind aus allen Richtungen. Niemand schien zu Hause zu sein. Das Haus ähnelte dem Wohnblock, in dem Sunee lebte, und es sah von außen genauso vernachlässigt aus. Es war lange nicht gestrichen worden, und der Verschlag für die Mülltonnen, in dem es irgendwann einmal gebrannt hatte, wies noch Rußspuren auf.
Es wurde schon wieder dunkel. Die Schneeschauer des Vormittags hatten sich in dichtes Schneetreiben verwandelt. Der Verkehr war schon fast zum Erliegen gekommen, weil viele Autos stecken blieben. Sigurður Óli dachte an Bergþóra, von der er den ganzen Tag nichts gehört hatte. Sie war bereits aufgestanden und zur Arbeit gegangen, als er aufwachte.
Es knisterte in der Gegensprechanlage, und er hörte ein »Hallo?«.
Sigurður Óli sagte seinen Namen und erklärte, dass er von der Kriminalpolizei sei.
Schweigen in der Gegensprechanlage.
»Und was willst du?«, fragte schließlich die Stimme aus dem Gerät.
»Ich will, dass du mich reinlässt«, sagte Sigurður Óli und trat wieder von einem Fuß auf den anderen.
Es verging geraume Zeit, bis er ein Klicken im Türschloss hörte. Sigurður Óli betrat das Haus, ging die Stufen zu dem Treppenabsatz hinauf, wo die Stimme aus der Gegensprechanlage zu Hause war, und klopfte an die Tür. Sie öffnete sich, und ein nervös wirkender Junge von etwa fünfzehn Jahren erschien im Türspalt.
»Bist du Anton?«, fragte Sigurður Óli.
»Ja«, sagte der Junge.
Er sah keineswegs krank aus und war angezogen, hatte aber ein wenig gerötete Wangen. Sigurður Óli bemerkte den Pizzageruch, der aus der Wohnung kam, und als er hineinspähte, sah er einen Parka auf einem Stuhl liegen und eine offene Pizzaschachtel. Ein Stück fehlte. Ihm war gesagt worden, dass Anton in den letzten Tagen krank gewesen sei und in der Schule gefehlt habe.
»Geht’s dir wieder besser?«, fragte Sigurður Óli.
Der Junge wich vor ihm zurück. Sigurður Óli trat ein und schloss die Tür hinter sich. Er sah, dass der Junge es sich mit der Pizza, Cola und zwei oder drei weiteren Videokassetten vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte, wo ein Actionfilm lief.
»Was ist denn los?«, fragte der Junge verwundert.
»Autos einzuritzen, ist eine Sache, Anton, aber eine ganz andere Sache ist es, Leute umzubringen«, sagte Sigurður Óli und nahm sich ein Stück von
Weitere Kostenlose Bücher