Frostnacht
reden sie?«, fragte Erlendur.
»Der Anorak war heil, als er heute Morgen aus dem Haus ging. Er war nicht neu, aber er war völlig in Ordnung.«
»Es ist bestimmt zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung gekommen«, sagte Erlendur. »Ich kann noch nichts dazu sagen, ob dieser Überfall auf Elías etwas mit Ausländerfeindlichkeit zu tun hat. Soweit ich weiß, gibt es an der Schule etwa dreißig Kinder ausländischer Herkunft. Wir müssen uns mit seinen Freunden unterhalten und mit allen anderen, zu denen er Kontakt hatte. Das gilt auch für seinen Bruder. Ich weiß, wie schwierig das ist, aber es wäre gut, wenn Sunee eine Liste mit den Namen der Klassenkameraden für uns zusammenstellen könnte. Falls sie sich nicht an die Namen erinnern kann, sollte sie uns etwas über diese Freunde sagen, wie alt sie sind oder so etwas, wo sie wohnen. Die Zeit drängt, ich hoffe, sie versteht das.«
»Kannst du dir vielleicht vorstellen, wie sie sich fühlt?«, fragte die Dolmetscherin unterkühlt.
»Ich habe so eine leise Ahnung«, erklärte Erlendur.
Elínborg klopfte an die Tür einer der Wohnungen im Erdgeschoss von Sunees Treppenaufgang. Die Tür öffnete sich, und ein uniformierter Polizist nahm sie in Empfang. Eine Zeugin, die sich bei ihnen gemeldet hatte, saß in ihrem Wohnzimmer und erwartete Elínborg. Die Frau, eine Witwe mit drei erwachsenen Kindern, war etwa fünfundsechzig Jahre alt und hieß Fanney. Sie hatte Kaffee für den Polizeibeamten gekocht, der sich zurückzog, als Elínborg eintraf. Die Frauen setzten sich mit einer Tasse Kaffee ins Wohnzimmer.
»Es ist einfach grauenvoll!«, sagte die Frau seufzend. »Und so etwas geschieht hier in unserem Haus! Wo soll das bloß noch enden?«
Die Wohnung lag im Dunkeln, und außer dem Licht in der Küche brannte nur im Wohnzimmer eine kleine Lampe. Der Grundriss war derselbe wie der von Sunees Wohnung, aber diese war mit dickem Teppichboden und grünen Tapeten im Flur und im Wohnzimmer ausgestattet.
»Kennst du diese Jungen?«, fragte Elínborg. »Die beiden Brüder?«
Sie war gezwungen, ohne Umschweife auf das Wesentliche zu sprechen zu kommen, denn die nächsten Aufgaben warteten bereits auf sie. Die Zeit drängte, und es galt, schnell zu sein, ohne dabei etwas zu übersehen.
»Ja, ein bisschen«, sagte Fanney. »Elías war ein reizender Junge. Sein Bruder war etwas unzugänglicher, aber er war auch ein sehr lieber Bursche.«
»Du hast gesagt, dass du ihn heute tagsüber gesehen hast«, sagte Elínborg, die versuchte, nicht zu erschöpft zu klingen. Ihre Tochter lag zu Hause mit Erbrechen und Fieber im Bett, und sie hatte in der Nacht zuvor wenig Schlaf bekommen. Eigentlich hatte sie nur auf einen Sprung im Dezernat vorbeischauen wollen, aber das änderte sich schlagartig, als die Meldung vom Tod des Jungen eintraf.
»Ich unterhalte mich manchmal draußen im Treppenhaus mit Sunee«, sagte Fanney, als hätte sie Elínborgs Frage nicht gehört. »Sie wohnen noch nicht lange hier. Es ist bestimmt sehr schwierig für sie so allein. Sunee muss sehr viel arbeiten, die Löhne sind ja weiß Gott nicht hoch hierzulande.«
»Wo war der Junge, als du ihn heute gesehen hast?«, fragte Elínborg.
»Hinter der Apotheke«, sagte Fanney.
»Wann war das?«, fragte Elínborg. »War er allein? Ist er in die Apotheke gegangen?«
»Ich bin so gegen zwei mit dem Bus aus der Stadt gekommen«, erklärte Fanney. »Auf dem Nachhauseweg komme ich an der Apotheke vorbei, und da habe ich ihn gesehen. Er war nicht allein, und er war nicht auf dem Weg in die Apotheke. Er war zusammen mit ein paar Kameraden, wahrscheinlich aus der Schule.«
»Und was haben sie da gemacht?«
»Nichts. Sie lungerten da bloß herum.«
»Hinter der Apotheke?«
»Ja. Man sieht gut in die Passage hinein, wenn man da vorbeigeht.«
»Wie viele Jungen waren es?«
»Fünf oder sechs. Ich weiß aber nicht, wer sie waren, ich habe sie nie zuvor gesehen.«
»Du bist dir da sicher?«
»Auf jeden Fall nicht so, dass sie mir aufgefallen wären«, sagte Fanney, während sie die leere Kaffeetasse abstellte. »Waren sie im gleichen Alter wie Niran?«
»Ja, sie waren wohl im gleichen Alter. Auch dunkel.«
»Aber du hast sie nicht gekannt?«
»Nein.«
»Du bist also mit Sunee bekannt, hast du gesagt?«
»Ja.«
»Hast du in letzter Zeit mit ihr gesprochen?«
»Ja, vor ein paar Tagen. Ich habe sie hier draußen im Treppenhaus getroffen. Da kam sie gerade von der Arbeit zurück und war fix und fertig. Sie
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