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Frucht der Sünde

Frucht der Sünde

Titel: Frucht der Sünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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einfach einen nehmen und wieder hinausgehen können, ohne einen Blick auf die Mondrian-Wände zu werfen. Vielleicht hätte sie das auch getan. Wenn es Mondrian-Wände gewesen wären.
    «Was   …?» Wie erstarrt blieb sie an der Tür stehen.
    «Alles in Ordnung?»
    «Nein.» Merrily schaltete das Licht an.
    Die Wände waren alle in einer einzigen Farbe angestrichen. Blau. Mitternachtsblau. Und die Farbfelder wurden von den dunkelbraunen Eichenbalken des Fachwerks unterteilt, die selbst Teil der Malerei waren. Gemalte Äste gingen von ihnen aus, die sich zur Decke hin verzweigten und sich ganz oben in einem Gewirr von Zweigen verloren.
    Als ob Jane versucht hätte, die Balken in der Mauer lebendig werden zu lassen, sie in Bäume zurückzuverwandeln.
    «Was soll das?» Merrily bemühte sich um einen ausgeglichenen Tonfall.
    «Das hat sie vermutlich viel Zeit gekostet», sagte Lol.
    «Ganze Nächte. Aber warum? Was bedeutet das?»
    Er antwortete nicht, sah nur zur Decke hinauf. Zwischen den Balken und den Ästen glitzerten viele sorgfältig gemalte kleine, gelbe und weiße Kreise. Lichter in den Bäumen.
    «Kleine goldene Laternen», sagte Lol. «Hängen in der Nacht.»
    Da zitiert er wohl eine halbvergessene Gedichtzeile, dachte sie.
     
    Die Polizisten ließen ihr Auto auf dem Marktplatz stehen und machten sich auf den Weg über den Friedhof. Jane folgte ihnen unauffällig.
    «Sollen wir Verstärkung anfordern, was meinst du, Kirk?»
    «Und wie lange soll es dauern, bis die in diesem gottverlassenen Ledwardine auftaucht? Es ist jetzt schon nach Mitternacht. Wir sehen uns erst mal um. Kann ja sein, dass die Bande sich nur zum Rauchen und Knutschen in die Büsche geschlagen hat. Da würden wir dann ziemlich dumm dastehen, was?»
    Zwei Personen liefen ihnen vom Apfelgarten aus direkt in die Arme. Es waren Danny Gittoes und Dean Wall. Beide waren betrunken.
    «Oh Scheiße.» Dean Wall hob die Hände. «Ich war’s nicht, Herr Kommissar.»
    «Da rüber an die Mauer, ihr beiden. Jetzt sagt ihr uns erst mal, wie ihr heißt.»
    Während Dean und Danny durchsucht wurden, schob sich Jane, hinter eine Gräberreihe geduckt, in den Apfelgarten. Sie bewegte sich vorsichtig und entschuldigte sich bei den Bäumen, an denen sie vorbeikam.
Respekt ist sehr wichtig
, hatte Lucy Devenish gesagt.
Einzelne Bäume können beschnitten und sogar gefällt werden, wenn sie sterben, aber dem Apfelgarten als Gesamtheit muss man immer Respekt entgegenbringen. Pflück niemals nach der Ernte noch einen Apfel. Fass niemals im Frühling die Bäume an. Brich niemals einen Blütenzweig ab. Nimm niemals einen mit ins Haus.
    Nachdem sie stundenlang in Lucys Büchern gelesen hatte, kannte sich Jane mit Äpfeln und Apfelpflanzungen bestens aus. Wissen ist die beste Verteidigung, sagte Lucy. Wissen oder Seligkeit. Thomas Traherne hatte die Seligkeit gefunden. Hatte gegen alle Widerstände das Geheimnis des Glücks entdeckt, das man in sich fühlt, wenn man eins wird mit der Natur, mit ihrem innersten Wesen.
    Während der vergangenen Woche allerdings hatte Janes weltliches Ich ihrem anderen Ich mehrfach und vorzugsweise tagsüber erklärt, dass das alles absoluter hirnverbrannter Schwachsinn war.
    Aber jetzt, mit den weißüberhauchten Apfelbäumen überall um sich herum, deren Blüten aussahen wie zarte Gewänder, schien Lucys Welt wieder sehr viel realer.
    Dann kam der Mond hinter den Wolken hervor und badete den Apfelgarten der Powells in seinem milchigen Licht, und Jane spürte, dass sie an der Schwelle eines großen Geheimnisses stand.
    Falls Dean Wall und Danny Gittoes sich weigerten, ohne Widerspruch mit den Polizisten zu gehen, so bekam Jane nichts davon mit. Falls die Bässe noch immer aus Dr.   Samedis schwarzer Kiste dröhnten, so hörte sie nichts davon. Falls Colettes Partygäste völlighigh zwischen den Bäumen herumstolperten, so sah sie nichts von ihnen.
    Allerdings waren da andere Gestalten, da war sie sicher. Bleich und schimmernd wie Mondstrahlen zwischen den Zweigen, so als ob in jedem weißen Blütenblatt ein Geist wohnte und all diese beseelten Blütenblätter zu durchscheinenden, tanzenden Wesen verschmelzen würden.
    Und man wollte mittanzen bei diesem Tanz, der so viel anmutiger und geschmeidiger war als das Herumgehüpfe auf dem Marktplatz. Je tiefer man in den Apfelgarten vordrang, desto leichter fühlte man sich. Als ob man selbst aus lauter Blütenblättern bestünde, die von einer leichten Brise auseinandergetrieben und

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