Frucht der Sünde

Titel: Frucht der Sünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman

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Vielleicht sind Frauen für diesen Job ja wirklich nicht stark genug. Mist, war ich das wirklich, die das eben gesagt hat?»
    «Ist Ihnen deshalb in der Kirche schlecht geworden?»
    «Weil ich mir wie eine Heuchlerin vorkam? Das spielt längst keine Rolle mehr, wussten Sie das nicht? Es gibt heutzutage genügend Pfarrer in der anglikanischen Kirche, die Ihnen sagen würden, dass die unbefleckte Empfängnis, die Weihnachtsgeschichte und die Auferstehung nichts weiter sind als Mythen und Gott einfach nur der Weihnachtsmann. Nein, ich weiß nicht, warum mir schlecht geworden ist.»
    Das war eine Lüge. Denn sie brachte es nicht über sich, das Schlimmste auszusprechen: dass sie nämlich, während ihre Gebete flach und hohl geworden waren, während sie keinen Trost, keine Antworten, keinen Widerhall mehr fand, gleichzeitig zumOpfer schreckenerregender Visionen von der anderen Seite der Demarkationslinie geworden war. Visionen, die mit Träumen begonnen und es schließlich geschafft hatten. Es schließlich bis in die Kirche geschafft hatten.
    Aberglaube. Geisteskrankheit.
    «Wissen Sie, was mir aufgefallen ist?» Lol zögerte. Er spielte mit dem Ärmelsaum seines Alien-Sweatshirts, wand ihn sich wie eine Aderpresse um den Zeigefinger. «Als Sie von dem Blau und Gold gesprochen haben?»
    «Was denn?»
    «Ich habe an Janes Wohnzimmer gedacht. An die Decke. An dem Abend, an dem wir sie aus dem Apfelgarten geholt haben, hat sie immer nur von kleinen goldenen Laternen geredet.»
    «Sie war betrunken.»
    «Das glaube ich nicht. Ich glaube, sie war … jetzt kommt ein heftiges Wort, Merrily. Verkraften Sie das?»
    «Wir können’s ja mal versuchen.»
    «Entrückt. Sie war entrückt. Und zwar in jedem Sinn … wie euphorisch. Wie verzaubert.»
    «Sie haben recht», sagte Merrily. «Das ist ein großes Wort.»
    «Und was war mit Ihnen in dieser kleinen Kirche?»
    «Das», gab sie mit gespielter Affektiertheit zurück, «nennen wir bei uns eine religiöse Erfahrung.»
    «Da haben Sie’s. Jane hat auch eine Erfahrung gemacht, aber das wollen Sie leugnen, weil sie nur ein Kind ist, Sie aber eine geweihte Pfarrerin. Lucy würde das eine ziemlich beschränkte Sichtweise nennen – alles, auf das nicht dick und fett GOTT gestempelt ist, muss …»
    «Schon gut», sagte Merrily. «Die Botschaft ist angekommen.»
    «Tut mir leid. Sie haben wirklich viel für mich getan, und jetzt beleidige ich Sie auch noch.»
    «Hören Sie, ich bin … Na gut. Vielleicht liegt das, was Jane passiert ist und Ihnen auch, einfach nur an … Lucy?»
    «Nein», sagte Lol.
    «Sie konnte sehr überzeugend sein.»
    «Es war nicht einfach nur Lucy.»
    «Da ist noch etwas, oder? Etwas, über das Sie mit Lucy Devenish gesprochen haben.»
    «Ich habe nur versucht, mit ihr darüber zu sprechen», sagte er verhalten.
    «Sie und Lucy Devenish haben über meine Tochter gesprochen und über etwas, das ihr passiert ist?»
    «So ungefähr.»
    «Also.» Sie hob die Hände. «Ich will Sie keineswegs beschuldigen, aber hat es etwas mit dem zu tun, was Sie mir vorhin erzählt haben? Mit den Mädchen?»
    «Alles hat etwas damit zu tun», sagte Lol. «Aber das hier war unheimlich.»
    «Es war also unheimlich, und trotzdem ist keinem eingefallen, mir etwas davon zu erzählen.»
    «Ich hab’s ja schon gesagt, es hat vermutlich mit Ihrer Position zu tun. Lucy meinte, wenn Sie so weit sind, es sich anzuhören, sollen Sie zu ihr kommen.»
    «Dafür ist es jetzt leider zu spät.» Merrily stand auf. «Also gehen wir und fragen Jane.»
    «Wir beide?»
    «Oh ja.»

    Schweigend gingen sie die Treppe zu Janes Wohnung hinauf. Als sie fast oben angekommen waren, hörten sie das Radio aus Janes Wohnzimmer. Auf Radio Hereford and Worcester kamen die Nachrichten.
    ‹Die Suche nach der vermissten Schülerin aus Herefordshire wurde
ausgeweitet, nachdem in einem Graben, zwei Meilen von ihrem Wohnort entfernt, Kleidungsstücke gefunden wurden. Die Polizei schließt ein Verbrechen mittlerweile nicht mehr aus. Colette Cassidy verschwand von ihrer Geburtstagsfeier in Ledwardine. Es folgt ein Live-Bericht von Bella Ford.›
    Nun erklang Bellas Stimme über eine Telefonverbindung.
‹Die Kleidungsstücke wurden etwa um die Mittagszeit von einem Bauern bei
King’s Oak Corner
zwischen Ledwardine und Madley gefunden. Die Polizei hat nicht angegeben, um welche Kleidungsstücke es sich genau handelt, aber bestätigt, dass sie von Colettes Eltern als ihrer Tochter gehörend erkannt