Frucht der Sünde
nichts.»
«Nur im Apfelgarten.»
Eine Weile sah er schweigend in die Flammen. Dann sagte er: «Diese Sache mit den Stockwerken. Wenn man so viele Bücher über Psychologie gelesen hat wie ich … Das war in der Klinik meine einzige Lektüre. Sie hatten dort eine Bibliothek für die Ärzte und das Fachpersonal. Ich habe mich mit der Bibliothekarin angefreundet und ganze Tage mit Lesen verbracht. Manches von dem, was in diesen Büchern stand, ergab viel mehr Sinn als der überhebliche Quatsch, den mir die Ärzte meistens erzählten.»
«Wie haben Sie das nur ausgehalten?»
«Die Zeit vergeht», sagte Lol. «Man bekommt es kaum mit. Jedenfalls … Ebenen. Das Stockwerk, in dem Sie schlafen, das ist Ihre Situation. Dort sind Ihr Ehemann, Ihre Vergangenheit, Ihre Probleme, Ihre Unsicherheiten, Ihre Ängste und Ihre Schuldgefühle. Dort können Sie immerzu Türen öffnen, aber sie führen nur in die Vergangenheit. Dort haben Sie Sean gesehen. Und in genau dem Moment, in dem es zu bedrückend wird, in dem Moment, in dem Sie glauben, es gäbe wirklich keinen Ausweg mehr, finden Sie sich an der Treppe wieder, die nach oben führt.»
Psychologengesülze. Sie brauchte eine Zigarette.
«Aber da oben, Merrily, wartet das Unbekannte. Es könnte eine Erkenntnis sein. Aber auch der Wahnsinn. Sie haben Angst vor dem, was Sie dort erfahren könnten.»
«Aber ich habe nichts erfahren. Ich bin beim Beten eingeschlafen und als ich aufwachte, fühlte ich mich wie zerschlagen und war völlig verzweifelt. Aber bevor ich in diesem Speicher war, wusste ich nicht, was Traurigkeit ist. Es kommt mir jedenfalls so vor, denn ich weiß immer noch nicht, was dort war. Warum ich mich so schlecht gefühlt habe.»
«Und es war anders.»
«Ich hatte keine Angst. Dort oben habe ich mich frei gefühlt. Ich hatte die Freiheit, für alle Zeiten nur noch zu weinen. Aber ich wusste, dass ich das nicht konnte. Ich musste leise sein. Durfte nicht gehört werden.»
«Von Jane?»
«Jane war nicht dort. Niemand war dort. Es war eine andere Sphäre, Lol. Eine Sphäre unbeschreiblicher Traurigkeit.»
Merrily schluchzte.
Ihr Kummer war so groß, dass selbst er die Tränen wegblinzeln musste.
Er wollte sie in die Arme nehmen.
Er rührte sie nicht an.
Er ging Tee kochen.
Später lag er auf dem Sofa und sah ihr beim Schlafen zu. Sie lag zusammengerollt wie ein Kind in dem Schlafsack vor dem Kamin, die Flammen warfen durch das Kamingitter helle Zickzackmuster auf ihr Gesicht. Die Zigaretten und das Zippo-Feuerzeug lagen neben ihr auf dem Teppich, und Ethel hatte sich zu ihren Füßen niedergelassen.
Er war nicht dazu gekommen, ihr von Alison zu erzählen. Er wollte sie fragen, wohin das führen würde. Was sie tun sollten. Er hatte auch Alison gefragt, wohin das führen sollte. Sie hatte gesagt, sie wüsste es nicht.
Aber ich stelle die Bedingungen. Wenn ich es ihm erzähle.
Hasst du ihn immer noch?
Wie kann ich ihn hassen? Mein eigen Fleisch und Blut?
Alison hatte bitter aufgelacht.
Gestern morgen hatte sie Lucy die ganze Geschichte erzählt. Dann war Lucy gestorben und hatte die Verantwortung an Merrily Watkins weitergegeben.
Lol trug wieder sein Alien-Sweatshirt. Die Pfarrerkleidung hing säuberlich auf einem Bügel hinter der Tür. Merrily hatte ihm nicht erzählt, was bei Richard Coffey besprochen worden war.
Lol betrachtete die schlafende Merrily. Er dachte an Lucy, die kalt und ohne ihren Hut in einem Leichenschauhaus in Hereford lag und auf ihre Autopsie wartete. Der Gedanke ließ ihn beklommen werden. Er konnte nicht mehr schlafen.
Auch Ethel schlief nicht. Sie lag am Ende des Schlafsacks ungefähr in der Höhe von Merrilys Knöcheln und musterte Lol schnurrend aus ihren goldenen Augen.
Merrilys Gesicht hatte sich in der Wärme des Kaminfeuers rosig gefärbt. Er konnte nicht aufhören, sie anzuschauen.
Zwei Mal stand er während der Nacht auf, um Kohlen nachzulegen, damit sie es warm hatte.
40 Ein schlechtes Apfeljahr
«Oh, Wahnsinn», sagte Jane.
Sie stand an der Tür des Salons. Lol tauchte hinter ihr auf. Er war in der Küche gewesen, um den Tee zu holen. Über Janes Schulter sah er, wie sich Merrily hastig mit dem Schlafsack aufrichtete.
«Schatz, bevor du noch ein einziges Wort sagst …»
«Soso», sagte Jane, «also hat’s bei euch gefunkt.»
Es war kurz vor acht. Kräftiger Sonnenschein fiel durch das Erkerfenster herein.
«Ihr habt die Nacht zusammen verbracht», sagte Jane.
«Nein!» Merrily saß in
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