Frucht der Sünde

gewesen sein. Schließlich wurde es ihm unangenehm, so angestarrt zu werden, und er wandte sich ab. Am Abend im Pub – übrigens in genau diesem Pub hier – habe ich mich im Spiegel ewig selbst angestarrt, und mir wurde beinahe schlecht vor Ekel.»
    Der Kaffee kam und Lol bezahlte. Es war eine andere Kellnerin als vorher, und sie erkannte Alison offensichtlich. Also sagte Lol: «Ach übrigens, Tante Doris lässt dir Grüße bestellen.»
     
    Sie wurde von einem Krampf im rechten Bein geweckt. Sie war bei ihrem erfolglosen Versuch eingeschlafen, im Gebet wieder dieselbe Ruhe zu finden wie früher. Aber es war wieder gewesen, als spreche sie in eine schwarze Unendlichkeit. Sie fror. Sie musste auf die Toilette.
    Sie kämpfte sich hoch und rieb sich die schmerzende Wade. Weder von oben noch von unten drang ein Geräusch zu ihr. Wie spät war es? Sie spähte nach den Leuchtziffern des Weckers. Fast halb zwölf. Sonntag. Arbeitstag. Frühgottesdienst halten. Vermutlich würde die Kirche außergewöhnlich voll sein. Wie würde die Pfarrerin wohl aussehen? Wie würde sie sich benehmen? Wäre sie bleich und reumütig? Aber ganz gleich, wie sie aussah, es würde genügend Stoff für eine schöne Woche mit saftigem Klatsch und Tratsch liefern.
    Der unermüdliche Ted hatte bestimmt schon wieder irgendwelche Maßnahmen ergriffen, nachdem er sie nicht hatte erreichen können, weil sie bei Coffey gewesen war, und vermutlich den Pfarrer im Ruhestand angerufen, der in Pembridge wohnte.
Habe wirklich alles für sie getan, aber sie hat so traumatische Erfahrungen hinter sich, verstehen Sie. Es ist mein Fehler, ich hätte wissen müssen, dass ihre Nerven dem noch nicht gewachsen sind, eine Gemeinde von dieser Größe   … der ganze Druck
…
    Druck. Sie musste zur Toilette. Merrily glitt in ihre Sandalen und zog einen Pullover über ihr Nachthemd. Mit schmerzenden Gliedern schlurfte sie zur Tür, sie fühlte sich alt, ausgehöhlt, vollkommen fertig.
    Nachdem sie fertig war, saß sie noch ein paar Minuten auf der Toilette und vergrub ihren Kopf in den Händen. Sie war mit den Nerven am Ende, und dafür schämte sie sich. Im Dorf hatten Dutzende von Menschen ernsthafte, große Probleme – schwere Krankheiten, einen Trauerfall in der Familie, die Arbeit verloren, das Haus in Gefahr, weil man die Hypothek nicht mehr bezahlenkonnte, und natürlich die übermächtige Angst, die das Verschwinden einer Tochter auslöste. Verglichen damit waren ihre eigenen Probleme harmlos und oberflächlich.
    Merrily wusch sich Gesicht und Hände mit kaltem Wasser.
    Geh wieder ins Bett. Denk nicht an morgen Abend oder daran, wie du das alles organisieren sollst. Wenn es stattfinden soll, dann findet es statt, wenn nicht, dann lass es bei der ursprünglichen Entscheidung: Kein Wil Williams in der Kirche, danke. Danke, und wenn es sein muss, auf Wiedersehen. Sie zog die Badezimmertür hinter sich zu.
    Etwas flog aus der Dunkelheit auf sie zu. Ganz kurz hatte sie den lebhaften Eindruck von einer harten Kugel aus eisiger Kälte, die wie ein schmutziger Schneeball durch den dunklen Flur rollte und dabei immer mehr Geschwindigkeit aufnahm.
    Sie schrak zurück und drückte sich an die Wand. Die Kälte traf sie wie ein Schlag. Sie stank nach Trauer und Elend, es hüllte sie ein wie ein eisiges Leichentuch. Sie konnte kaum noch atmen.
    Sie krümmte sich.
Wach auf.
Betete mühsam.
Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück
…
    Am Ende des Flurs hing ein Licht über der Treppe.
    Wach auf, wach auf, wach auf   …
    Das Licht war ein schmaler aufrechter Streifen. Es war nicht hell, versprach keine Wärme, aber sie wandte sich ihm zu und griff nach dem Treppengeländer.
    Sollte sie versuchen hinunterzugehen? Sie wollte nach Lol rufen, doch sie konnte seinen Namen nicht aussprechen. Ihre Zunge klebte am Gaumen, und alles, was sie herausbrachte, war ein klagender Laut wie der nächtliche Ruf einer Eule. Schwach und einsam. Und als sie die Treppe hinuntersah, hatte sie das Gefühl, in einen endlosen, kalten schwarzen Brunnen zu blicken.
    Der einzige Weg führte aufwärts.
    Sie sah nach oben. Das Licht flackerte über der Treppe undstreifte sie kurz. Erschrocken stolperte sie vorwärts auf die Stufen. Die kalte Luft war feucht und schwer, Lichtpartikel schienen darin aufzublitzen, und die hölzernen Treppenstufen waren uneben. Sie rappelte sich hoch und wäre beinahe erneut zusammengesunken, so panisch raste ihr Herz.
    Verzweiflung.