Frucht der Sünde
ich mir da einfach sein Blut abwaschen und wieder gehen?»
«Auf dem Land berührt einen alles stärker.» Ted stellte sich neben sie ans Fenster. «Ganz gleich, was es ist. Weil man jeden kennt.
Jeden
. Und du wirst feststellen, dass du als Pfarrerin noch mehr als …
Hauptfigur
betrachtet wirst. Geburten, Todesfälle, du hast immer etwas damit zu tun. Auch wenn schon seit dem Krieg kein Mensch aus der Familie mehr zum Gottesdienst gegangen ist.»
«Das ist schon in Ordnung. Meiner Meinung nach muss jemand, der zur Kirche gehört, nicht unbedingt zum Gottesdienst gehen.»
«Du wirst auch noch herausfinden, dass Hügel und Wiesen eine viel klaustrophobischere Wirkung haben können als ein Wohnblock in der Stadt. Wenn du hier jemanden über ein Feld von zwölf Morgen auf dich zukommen siehst, kannst du nicht einfach in der nächsten Bushaltestelle verschwinden.»
«Ist mir recht.»
Ted hob zweifelnd eine Augenbraue. «Und der ständige Dorfklatsch. Jeder redet über jeden», sagte er. «Zum Beispiel werden sie dir garantiert erzählen, dass Edgar Powell diese Schrotflinte schon seit Ewigkeiten benutzt.»
«Und deshalb muss es Selbstmord sein?»
«Sieht so aus, aber sie finden kein Motiv. Geldprobleme? Nicht mehr als jeder andere Bauer auch. Einsamkeit? Kaum – er lebte schließlich weder allein noch abgelegen. Depressionen? Schwer zu sagen. Vielleicht hatte er einfach genug. Oder vielleicht wollte er den Cassidys bloß ihre auf altenglisch getrimmte Abendgesellschaftverderben. War zu Lebzeiten ein ziemlich gehässiger Mistkerl.»
«Jetzt machst du aber Witze, oder?»
«Jedenfalls beharrt Garrod Powell darauf, dass es ein Unfall war. Ist zu mir gekommen, um sich beraten zu lassen. Er wird dem Untersuchungsrichter erzählen, dass der alte Knabe in letzter Zeit ein bisschen gaga geworden ist. Kann man ihm nicht vorwerfen. Wer will schon einen Selbstmord in der Familie haben? Ich habe ihm vorgeschlagen, sich mal mit dem jungen Asprey über die medizinische Seite zu unterhalten. Außerdem könnte sogar auf unbekannte Todesursache erkannt werden.»
«Und was bedeutet das genau, Onkel Ted?»
Merrily wandte sich um. Jane saß mit den Ellbogen auf den Knien, das Kinn in die Hand gestützt, auf der obersten Treppenstufe.
«Das bedeutet, dass sie nicht feststellen können, was genau passiert ist, Jane», sagte Ted.
«Ich wäre echt gern dabei gewesen.»
Merrily verdrehte die Augen. Sie hatte Jane bei ihrer Mutter gelassen, als sie hierhergekommen war, um undercover zu erkunden, ob es angezeigt war, sich für diesen Job zu bewerben oder nicht. Ihre Tochter wäre da viel zu sehr aufgefallen.
«Gibt es viele Selbstmorde hier im Dorf?», setzte Jane nach.
«Nicht vor Publikum», antwortete Ted trocken.
Merrily dachte leicht schuldbewusst daran, wie sie sich in dieser Nacht immer wieder das Gesicht abgeschrubbt hatte. Die falsche Barbourjacke hatte sie wegwerfen müssen.
Sie übernachteten im
Black Swan
. Wie es der Zufall wollte, lag das Doppelzimmer im zweiten Obergeschoss, aber in einem Hotel ist das etwas anderes. Der
Black Swan
war wie alle größeren Gebäude in Ledwardine – mit Ausnahme des Pfarrhauses – behutsammodernisiert worden; das Zimmer war im historischen Stil, dabei aber sehr komfortabel eingerichtet.
Jane war nach ungefähr dreißig Sekunden eingeschlafen. Sie konnte überall tief und ruhig schlafen. Den Tod ihres Vaters hatte sie mit fast beunruhigendem Gleichmut hingenommen. Sean hatte auf der Überholspur gelebt, und genau dort war er auch gestorben. Rumms. Weg. Fast wirkte es, als habe es ihr um das Mädchen, das bei ihm im Auto gewesen hatte, mehr leid getan. Sie hätte Jane sein können, in ein paar Jahren, oder Merrily, zehn Jahre jünger.
Weil ihre Gedanken nicht zur Ruhe kamen, setzte sich Merrily auf, lehnte sich an ihr Kopfkissen und zündete die letzte Zigarette des Tages an. Durch das Fenster in der dicken Mauer, das mit schwerem Eichenholz eingefasst war, sah sie die schiefen Bilderbuchdächer des Dorfes in der milden, leicht nebeligen Nacht.
Es war perfekt. Vielleicht sogar zu perfekt. Wenn man hier lebte, mit Kletterrosen um die Eingangstür inmitten dieser Postkartenlandschaft, wovon sollte man dann noch träumen?
«Und wie läuft es finanziell?», hatte Ted in der Hotelbar gefragt, nachdem sie gemeinsam zu Abend gegessen hatten.
«Oh», Merrily trank einen Schluck von ihrem Bier, «wir kommen zurecht. Seans Schuldenberg war doch nicht so hoch, wie wir zuerst
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