Frucht der Sünde
doch hier endete die Ähnlichkeit schon, denn Alison besaß eine scharfgeschnittene, königliche Nase und leicht schräggeschnittene, dunkelblaue Augen. «Alison Kinnersley. Ich glaube, wir haben uns noch nicht offiziell bekannt gemacht.»
«Vielleicht, weil ich Sie hier noch nie zuvor gesehen habe. Merrily Watkins.»
«Ich komme manchmal in die Kirche», sagte Alison. «Zum Nachdenken. Aber nie zusammen mit James.» Dann fügte sie mit Bull-Davies’ bellendem Militärton an: «Gehört sich nicht, verstehen Sie?»
Merrily hob eine Augenbraue. «Fragt heute noch jemand danach, was sich gehört?»
«James schon.»
«Ja.» Merrily ging von dem Grabmal weg. «Das kann ich mir vorstellen.»
Und wieso lässt er sich dann in aller Öffentlichkeit von dir vorführen?,
dachte sie und erinnerte sich an Alisons Hände in seinen Hosentaschen am Abend des Wassailing.
«Der Arme …» Alison stellte sich neben das Grabmal Thomas Bulls. «Er kam gestern völlig außer sich nach Hause. Er ist überzeugt davon, dass Sie ihm mit diesem Theaterstück eins reinwürgen wollen.»
«Das ist gut. Er hat nämlich gedroht,
mir
eins reinzuwürgen, falls ich nicht denselben Standpunkt vertrete wie er.»
Alison lachte. «James gibt wirklich nur Mist von sich. Ich dachte, das sollte ich Ihnen mal sagen.» Unbewegt betrachtete sie das Grabmal. «Er ist heute nach Hereford gefahren. Zur Untersuchung des Powell-Falls. Er versteht es als seine Pflicht, Rod Powell dabei zu helfen, den Gutachter davon zu überzeugen, dass der alte Edgar keinen Selbstmord begangen hat. Er wird erst gegen Abend zurückkommen, also habe ich …» Ihre tiefblauen Augen richteten sich direkt auf Merrily, als wäre das, was sie jetzt sagen würde, besonders wichtig.
«Ehrlich gesagt, hatte ich das Gefühl, dass Sie sich nach dieser grässlichen Szene gestern mit ihm vielleicht ein bisschen eingeschüchtert fühlen könnten. Also dachte ich, ich sollte Ihnen sagen, dass James jede Menge Mist von sich gibt, und was auch immer er zu Ihnen gesagt hat, Sie sollten es auf keinen Fall ernst nehmen. Ich verlasse mich natürlich darauf, dass Sie meine Meinung für sich behalten. Als Geistliche.»
Merrily wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte.
«Ich hätte nichts dagegen, mir dieses Stück anzusehen», sagte Alison. «Ich schätze, es könnte ziemlich interessant werden.»
Sie hatte eine ganz leichte Dialektfärbung in der Stimme, die verriet, dass sie nicht aus denselben Kreisen stammte wie James.
«Ich sage Ihnen mal was.» Sie berührte mit ihrem rosalackierten Zeigefingernagel Tom Bulls Sandsteinlippen. «Dieser alte Schweinehund hatte mehr auf dem Gewissen, als James zugeben will.»
«Was denn zum Beispiel?»
«Ich weiß es selber nicht so genau. Und wenn ich es wüsste …» Sie zog ihre Hand von der Steinskulptur weg. «Ist ja auch egal.»
«Entschuldigen Sie», sagte Merrily, «ich bin ein bisschen verwirrt. Sie sind James’ …»
«Geliebte», sagte Alison leise. «Geliebte. Altmodisches Wort, altmodischer Typ.»
«So kam er mir auch vor.»
«Sie wollen wissen, warum ich ihm hier in den Rücken falle?»
«So ungefähr.»
«Hmmm.» Alison nickte. «Sie haben ihn doch kennengelernt. Sie haben seinen blödsinnig altmodischen Macho-Paternalismus zu spüren bekommen.»
«Ich verstehe immer noch nicht ganz», sagte Merrily.
«Auch gut», sagte Alison leichthin. «Das macht nichts. Solange sie sich keine Sorgen darüber machen.»
Dann ging sie Richtung Kirchentür, drehte sich noch einmal halb um, hob ihre Hand und klappte zweimal die Finger Richtung Handfläche, sodass sich Merrily an einen pickenden Vogel erinnert fühlte.
«Bis dann, Frau Pfarrer.»
Anschließend ging Merrily direkt zum
Black Swan
. Sie musste Roland überreden, sie noch ein paar Tage bleiben zu lassen.
«Also, es tut mir wirklich leid, Mrs. Watkins», sagte er, «ich habe mich nur nach Ihren Angaben gerichtet. Und jetzt ist die Woolhope-Suite ab morgen vermietet.»
«Und heute?»
«Es tut mir
so
leid. Es hat natürlich nichts mit Ihnen zu tun, aber ich muss noch alles putzen und vorbereiten lassen, verstehen Sie? – Ach, da fällt mir ein, das hier wurde für Sie in unseren Briefkasten geworfen.»
Es war ein weißer Umschlag, adressiert mit
An die Pfarrerin, Black Swan
.
«Ist gut», sagte Merrily schwach. «Ich gehe hoch, packe unsere Sachen zusammen, und wenn Jane von der Schule kommt, bringen wir alles rüber.»
Oben angekommen, dachte sie,
auch
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