Frucht der Sünde
wir hier nicht über, sagen wir, Energien, die die Wissenschaft noch nicht erklären kann? In der mittelalterlichen Kirche waren diese Erscheinungen ein zentrales Thema. Vieles von dem, mit dem sich die Priester damals beschäftigten, würde man heute als Magie oder Illusion abtun. Es war damals unter Klerikern gar keine so seltene Notlösung, gelegentlich ein Wunder aus dem Hut zu ziehen, um die … Glaubwürdigkeit zu steigern. Was wir zum Beispiel heute als natürliche physikalische Reaktion kennen, wurde damals für das Werk Gottes oder eben des Teufels gehalten. Und deshalb kann ich mir auch vorstellen, dass Häuser heimgesucht werden.»
«Damit ich das richtig verstehe – Sie glauben, dass es eine wissenschaftliche Erklärung gibt, die nichts mit Religion und deshalb auch nichts mit unserer Arbeit zu tun hat. Also sind die ganzen offiziellen Exorzisten, die es heute noch in den Diözesen gibt, nichts weiter als Überbleibsel aus dem Mittelalter.»
«Das ist heikel, Merrily. Es stimmt, dass sich manche Geistliche zu dieser Arbeit berufen fühlen. Aber selbst sie sehen ihre Tätigkeit mehr und mehr als psychologische Hilfe an. Die Kirche ist sehr vorsichtig, was Geister und Dämonen und angebliche Muttergotteserscheinungen in Form von feuchten Flecken an der Küchenwand angeht, und damit hat sie meiner Meinung nach auch recht. Trotzdem bedeutet das nicht, dass es keine unerklärlichen Erscheinungen gibt.»
«Dann schlagen Sie mir also vor, ich soll mich an einen Wissenschaftler wenden. Oder an einen Psychotherapeuten.»
«Ganz bestimmt nicht.»
«Oder mit Jane zu einem gehen.»
David Campbell seufzte. «Sie sind ein empfindsamer Mensch, Merrily. Deshalb haben Sie auch diese verantwortungsvolle Position.»
«Obwohl ich eine Frau bin.»
«Das ist eben immer noch ein sensibles Thema», sagte David. Inzwischen klang seine Stimme merklich kühler.
«Sie meinen, ich sollte nicht darüber reden», sagte Merrily. «Andernfalls könnten die Chauvinisten aus der Diözese dem Bischof erzählen, was dabei herauskommt, wenn man einer hysterischen Frau so ein Amt überträgt.»
«Ich glaube, Sie sollten noch ein paar Wochen ins Land gehen lassen. Es ist ja nicht … bedrohlich, oder?»
Sie dachte an Seans blutüberströmtes Gesicht und seine tastenden Hände. Der Traum-Sean. Denn das war bestimmt ein Traum gewesen, oder?
«Außerdem hätte ich nicht gedacht», sagte David, «dass solche paranormalen Erscheinungen Ihnen nach all den emotionalen Schocks, die Sie hinter sich haben, etwas anhaben können.»
«Nein.» Sie holte Luft, um sich zu beruhigen. «Oh nein.»
«Sie haben gesagt, Sie wüssten nicht, wie Sie damit umgehen sollen, als gäbe es eine geheime Technik, die wir Ihnen vorenthalten haben. So etwas gibt es leider nicht. Es tut mir leid, meine Liebe, aber Sie müssen Ihr Gottvertrauen allein finden. Und wenn Sie sich in ein oder zwei Wochen immer noch Sorgen machen, rufen Sie mich einfach noch einmal an.»
Doch damit sagte er ihr, sie solle ihn nicht anrufen. Er sagte ihr, dass sie, was die Kirche anging, auf sich allein gestellt war.
21 Tränen
Merrily hatte Kopfschmerzen. Sie ging in die Kirche. Wollte sie im Pfarrhaus nicht allein sein? War sogar die noch ältere Kirche gemütlicher, mitsamt ihren Gräbern und den Totenschädeln, die ihr von den Grabplatten entgegengrinsten?
Sie würde David Campbell oder sonst jemanden in diesem grässlichen College niemals mehr anrufen.
Sie zog die schwere Tür an dem schweren, ringförmigen Eisengriff auf.
«… du!»
Sie hielt inne, die Kopfschmerzen ließen ihren Schädel dröhnen.
«… du, Liza Howells … an dem Abend, an dem du mit deiner aufgeplatzten Lippe zu mir gekommen bist, als dir dein Ehemann die Zähne ausgeschlagen hat, weil du ein Verhältnis mit Joseph Pritchard hattest …»
Zuerst dachte sie, es sei eine Probe für das Laienspiel, das der Hausfrauenverein für das Festival einstudierte.
«Gut.» Schritte. «Machen wir hier einen Schnitt.»
Diese Stimme kannte sie. Es war Martin Creighton, der Regisseur.
«So, diese Liza sitzt also irgendwo in der Mitte und trägt … was?»
«Ein schlichtes schwarzes Kleid.» Mira Wickham, die Ausstatterin. «Sie soll nicht auffallen, bevor sie aufsteht. Das Publikum soll nicht bemerken, dass sie eine Schauspielerin ist, bis sie zu sprechen anfängt.»
Merrily ging ein paar Schritte in die Kirche hinein und blieb an dem normannischen Taufbecken stehen.
«Was wirklich gut
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