Fruchtbarkeit - 1
Doktor Boutan eintrat. Die kleine Andrée, die ihn wegen seiner lächelnden Gutmütigkeit liebte, lief ihm entgegen und hielt ihm, schon getröstet, ihre Stirn zum Kusse hin.
»Guten Tag, mein Kind. Ich warte auf Ihre Mama, die mir eine Depesche gesandt hat. die aber, wie ich höre, noch nicht zu Hause ist. Ich bin übrigens vor der Zeit gekommen. – Siehe da, mein lieber Mathieu, Sie sind auch hier?«
»Ja. Ich erwarte Monsieur Seguin.«
Sie schüttelten sich warm die Hände. Dann wandte sich der Arzt, der auf Nora einen Seitenblick geworfen hatte, an diese, und fragte, ob Madame Seguin leidend sei, da sie ihn telegraphisch berufen habe. Sie antwortete kurz, daß sie es nicht wisse. Und da er sie weiter fragte, befremdet darüber, daß er Lucie nicht mit Gaston und Andrée hier sah, sagte sie:
»Lucie liegt zu Bett.«
»Wie zu Bett?« Alfo ist sie die Kranke?«
»O nein, sie ist nicht krank.«
Er sah sie wieder an mit seinen klugen Augen, die auf den Grund ihrer Seele blicken zu wollen schienen, und richtete keine weitere Frage an sie.
»Gut, ich werde warten.«
Nora räumte endlich den Platz und führte Gaston und Andrée mit sich, indem sie sie ein wenig vor sich herstieß; sie schien unbehaglich und irritiert unter diesem forschenden Blicke, der sich nicht von ihr und den zwei ihrer Obhut überlassenen Kindern abwandte, als bis sie das Zimmer verlassen hatten.
Boutan hatte sich Mathieu zugewandt. Einen Augenblick blieben sie so einander gegenüber, ohne zu sprechen. Beide waren wissend, beide schüttelten den Kopf. Dann sagte der Arzt halblaut: »Wie, was sagen Sie zu dem Fräulein? Was mich betrifft, lieber Freund, mich überläuft es kalt, wenn ich sie sehe. Haben Sie diesen Mund und diese Augen beobachtet, die übrigens sehr schön sind? Nie noch habe ich das Verbrechen so deutlich in einer so prächtigen Gestalt gesehen. Hoffen wir, daß ich mich täusche!«
Ein neues Stillschweigen entstand. Er hatte ebenfalls begonnen, das Gemach zu durchmessen; und als er wieder zurückkehrte, machte er eine Gebärde, wie um auf dessen Vernachlässigung zu weisen, wie um durch die Mauern hindurch auf die traurige Katastrophe hinzudeuten, die das ganze Haus zu vernichten drohte.
»Es war unabwendbar, Sie haben ja die einzelnen Folgeerscheinungen vorhergesehen und beobachtet, nicht wahr? Ich weiß ja, man macht sich über mich lustig, man behandelt mich als guten Narren, als einen Spezialisten, der in den Ideenkreis der von ihm behandelten Fälle eingekapselt ist. Aber was wollen Sie? Wenn ich auf meinem Standpunkt beharre, so ist es nur, weil ich überzeugt bin, daß ich recht habe. So auch bei diesen Séguin; ist es nicht offenbar, daß alles Unheil nur jenen ersten Unterschlagungen entstammt, da der Mann und die Frau sich gegenseitig verderbten und zerrütteten, weil sie eigensinnig darauf beharrten, kein Kind mehr haben zu wollen? Von da ab, kann man sagen, war die Ehe dem Verderben geweiht. Sie haben dann doch noch eins bekommen, unwissentlich, aus Versehen, und nun wird der Mann zerfleischt, toll gemacht von sinnloser Eifersucht, die Frau geschlagen, vernachlässigt, dem Falle zugetrieben. Notwendigerweise war der doppelte Ehebruch die schließliche Folge bei solchen Naturen, die in < a name=“page358” title=“phil1980/sara” id=“page358”>wütendem Kampfe miteinander lagen, sich gegenseitig entnervten und vernichteten, während sie den unsinnigsten weltlichen Reizungen nachjagten. Heute ist der Bruch vollständig, die Familienbande sind zerstört, die Geliebte des Mannes und der Liebhaber der Frau am häuslichen Herde eingenistet, der Zusammenbruch vor der Tür, unter der fortgesetzten, der unsauberen Unterschlagung, die sich verbreitert, sich multipliziert, die nun von vieren hier geübt wird … In mir wütet es, wenn ich daran denke! Und wenn ich Ihnen davon spreche, so geschieht es, um mir das Herz zu erleichtern, ob ich auch nicht den Anspruch erhebe, Ihnen etwas Neues zu sagen.«
Der sonst so gelassene Mann hatte sich in Zorn geredet. Seine Stimme, die halblaut geblieben war, bekam einen seltsam scharfen und energischen Klang.
»Man redet sehr viel von unsrer modernen Nervosität, von unsrer Entartung, von unfern immer schwächlicher und schwächlicher werdenden Kindern, die von kranken, zerrütteten, überreizten Frauen in die Welt gesetzt werden. Aber vor allen andern, weniger gefährlichen, Ursachen ist die Unterschlagung die erste, die große Ursache, die, welche das Leben an seiner
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