Fruchtbarkeit - 1
mehr genau, woher er sie hatte. Er wußte sie eben.
»Sie begreifen, wenn man mehr als vierzig Jahre an einem Orte ist, so kommt einem schließlich alles zu Ohren. Ich weiß alles, ich weiß alles.«
Sie erbebte, und ein tiefes Schweigen folgte. Er, die Augen auf die Glut geheftet, war in die schmerzerfüllte Vergangenheit zurückversunken, die er mit der Verschwiegenheit des gewissenhaften Buchhalters in sich trug. Sie dachte nach und fand, daß es so am besten sei, daß die Lage mit einem Schlage geklärt sei. Da er unterrichtet war, hatte sie ihn nur einfach nach ihrem Gefallen, ohne alle Schwächlichkeit, als gefügiges Werkzeug zu benutzen.
»Alexandre Honoré, das Kind von Rougemont, ja! Ich habe ihn endlich wiedergefunden. Und wissen Sie auch von den Schritten, die ich vor fünfzehn Jahren unternommen habe, verzweifelt, daß er unauffindbar war, so daß ich schon glaubte, er sei tot?«
Er nickte bejahend, und sie fuhr fort, erzählte ihm, daß sie seit langem auf alte Pläne verzichtet hatte, als plötzlich das Schicksal sich erfüllt habe.
»Stellen Sie sich einen Donnerschlag vor. Es war an dem Tage, wo Sie mich so erregt gefunden haben. Meine Schwägerin Sérafine, die kaum viermal im Jahre zu mir kommt, hatte mich um zehn Uhr mit ihrem Besuche überrascht. Sie ist sehr seltsam geworden, wie Sie wissen, und ich habe zuerst kaum auf die Geschichte gehört, die sie mir erzählte, von einem jungen Manne, dessen Bekanntschaft sie durch eine Dame gemacht habe, ein unglücklicher junger Mann, der durch schlechte Gesellschaft ins Verderben geraten sei, und den es zu retten gelte, indem man ihm zu Hilfe komme. Und dann, welch ein Stoß, lieber Freund, als sie deutlicher sprach und mir anvertraute, was ein Zufall sie hat entdecken lassen… Ich sage Ihnen, das Schicksal ist erwacht und klopft an!«
In der Tat, die Geschichte war phantastisch. Sérafine war seit Jahren auf dem Wege vollständiger Zerrüttung, von Wut verzehrt über ihr Verwelktsein, über das vorzeitige Greisentum, in welches sie diese unsinnige Operation versetzt hatte, von der sie das Wunder vermehrter, zügelloser und strafloser Genüsse erwartet hatte. Immer auf der Suche nach der verlorenen Lust, hatte sie herumzustreifen begonnen, war bis in die niedrigsten Schichten hinabgestiegen, hatte es mit Monstruositäten versucht. Man erzählte sich von ihr unerhörte Geschichten. So war sie auch auf den seltsamen Gedanken verfallen, sich durch eine befreundete Dame als Patronesse in einen Verein einführen zu lassen, der sich damit befaßte, jungen Sträflingen bei ihrem Verlassen des Gefängnisses zu Hilfe zu kommen und sie zu bessern. Sie hatte deren sogar welche bei sich, in ihre geheimnisvolle Erdgeschoßwohnung in der Rue de Marignan aufgenommen, sie dort beherbergt, mit ihnen bei geschlossenen Türen und Fenstern in wahnsinniger Gemeinschaft gelebt. Und so geschah es, daß eines Abends ein junger Freund ihr Alexandre zuführte, einen kräftigen Burschen von nun schon zweiunddreißig Jahren, der eben nach sechsjähriger Haft aus dem Zuchthaus entlassen worden war. Einen Monat lang hatte er regiert; und als er ihr eines Morgens seine ganze Geschichte erzählt, von Rougemont, von seiner Mutter Norine, von seinen vergeblichen Versuchen gesprochen hatte, seinen Vater, einen ungeheuer reichen Mann, zu finden, hatte sie mit einemmal alles gewußt, hatte sich nun den Eindruck des schon Gesehenen erklärt, den er bei ihr hervorbrachte, die Aehnlichteit mit Beauchêne, die sie nun mit dem Blitzstrahl einer blendenden Gewißheit durchfuhr; und dieses zufällige Sichfinden in den Armen eines Neffen zur linken Hand, diese von der dunkeln Macht des Schicksals herbeigeführte seltsame Vereinigung hatte sie einen Tag lang unterhalten, indem es sie ein wenig dem Einerlei ihres Lebens entriß. Der arme Junge! Sie konnte ihn nicht behalten, sie hatte ihm nicht einmal etwas von ihrer überraschenden Entdeckung gesagt, um unnütze Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Sie war lediglich gekommen, um Constance, von deren eifrigen Nachforschungen sie erfahren hatte, die Geschichte zu erzählen, schon wieder matt, wieder in die Hölle der ungesättigten Begierde zurückverfallen, von dem Scheusal nicht befriedigter als von dem Vorübergehenden der Straße.
»Er weiß also nichts,« schloß Constance. »Meine Schwägerin wird ihn lediglich zu mir, als zu einer ihr befreundeten Dame schicken, die ihm einen guten Platz verschaffen soll. Er hat jetzt die ernstliche Absicht
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