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Fruchtbarkeit - 1

Fruchtbarkeit - 1

Titel: Fruchtbarkeit - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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langen, geraden und öden Straßen und trieb die feinen Schneekörner vor sich her, mit denen sie bedeckt waren. Während solcher strengen Winterkälte verfiel dieses Arbeiterviertel in trübselige Erstarrung. Von beiden Seiten der langen Gassen längs der endlosen grauen Mauern hörte man nichts als das regelmäßige Zischen der Dampfrohre, wie ein unaufhörliches Keuchen der Anstrengung und des Leidens. Und in dieser trostlosen Oede, an der Ecke zweier Straßen, wie um die Kommenden schon von weitem sehen zu können, warteten die beiden Frauen, Mutter und Tochter, auf dem Trottoir, in dem eisigen Wind, der sie durchblies, beide vor Kälte zitternd, die Mutter in schwarzer Haube, die Tochter mit einem roten Wolltuche auf dem Kopfe.
    Als Norine Mathieu erblickte, begann sie zu weinen. Ihr sonst so frisches und hübsches, milchweißes Gesicht, das gewöhnlich einen so fröhlichen und dreisten Ausdruck trug, war von Tränen entstellt. Sie übertrieb auch wohl ein wenig ihre Verzweiflung, um sich interessant zu machen.
    »Ach, Monsieur,« rief die Mutter in klagendem Tone, »wie gut von Ihnen, daß Sie gekommen sind! Sie sind unsre einzige Hoffnung.«
    Ehe sie weitersprach, wendete sie sich an die beiden Kleinen, Irma und Cécile, die sich bereits neben ihrer großen Schwester aufgepflanzt hatten, ganz erregt von diesem Abenteuer und vor Neugierde brennend, was es zu hören geben würde.
    »Ihr zwei, ihr lauft voraus, die eine in diese Straße und die andre in diese, und stellt euch dort auf und paßt auf, ob jemand kommt.«
    Aber die Kinder rührten sich nicht, ohne daß übrigens die Mutter sich weiter um sie bekümmerte. Sie blieben mit leuchtenden Augen stehen, begierig horchend.
    »Sie kennen das Unglück, das uns betroffen hat, Monsieur,« fuhr die Moineaude fort. »Als ob wir nicht schon genug Kummer hätten! Was soll aus uns werden, allmächtiger Gott!«
    Sie fing nun auch zu weinen an, die Tränen erstickten ihre Stimme. Mathieu, der sie seit nahezu einem Jahre nicht gesehen hatte, fand sie sehr gealtert, eine alte Frau trotz ihrer knappen dreiundvierzig Jahre, verwüstet durch ihre aufeinanderfolgenden Schwangerschaften, während welcher sie sich zu Tode arbeitete, und von denen sie frühzeitig, ohne Rücksicht auf sich selbst aufstand, ohne irgendwelche Pflege, mit verminderten Haaren und Zähnen. Wenn sie als geduldige Seele sich stumpf in ihr Los ergab, so gewährte es ihr doch eine gewisse Erleichterung, ihr Unglück zur Schau zu stellen; und für einen Augenblick vergaß sie das Schicksal, von dem ihre älteste Tochter heimgesucht worden, und das das Maß voll machte, um alle die Schläge aufzuzählen, die sie in den letzten sechs Monaten betroffen hatten.
    »Freilich hat man endlich unsern Viktor in die Fabrik genommen, als er sechzehn Jahre alt war. Und das war uns eine Erleichterung, denn wenn ihrer acht in einem Hause sind, so macht einer mehr, der verdient, schon einen großen Unterschied. Aber es bleiben noch immer drei, die nicht arbeiten, diese zwei da und mein letzter, der kleine Alfred, auf den ich so gern verzichtet hätte. Obendrein ist er auch viel krank, ich hätte ihn neulich fast verloren, was vielleicht für ihn und für uns besser gewesen wäre. Nicht zu rechnen, daß auch Irma, die Kleine, die Sie da sehen, nicht sehr stark ist; und die Medizinen sind so teuer! Ich spreche nicht von dem Tode Eugènes, unsres Aeltesten, der in den Kolonien gedient hat. Sie haben ihn ja gekannt, als er in der Fabrik war und ehe er Soldat wurde. Neulich hat uns ein amtliches Papier die Nachricht gebracht, daß er an Dysenterie gestorben ist. Es lohnt sich wohl, Kinder zu haben, damit man sie einem tötet, ohne daß man sie noch einmal umarmen kann, ohne daß man auch nur weiß, wo sie begraben sind!«
    Ein Aufschluchzen Norines brachte sie zu der augenblicklichen Situation zurück.
    »Ja, ja, ich komme schon darauf. Ach ja, das Kinderkriegen, damit ist es glücklicherweise bei mir vorbei! Ich habe mein Teil davon gehabt, und das einzige Glück, das ich, die ich so früh gealtert bin, erwartete, war, nicht mehr Weib zu sein.«
    Der Wind wehte eisig, die Kälte war so scharf, daß Mathieu seinen Schnurrbart sich mit Reif belegen fühlte. Er wollte zur Sache kommen. »Ihre Kleinen werden sich erkälten. Sagen Sie mir also, was Sie wünschen.« »Ach, es ist wegen des Unglücks Norines, wie Sie wissen. Es hat uns weiter nichts gefehlt als diese Schande! Sie hat mir alles erzählt, sie hat niemand als mich, die

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