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Fruchtbarkeit - 1

Fruchtbarkeit - 1

Titel: Fruchtbarkeit - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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verführte. Aber sie mochte wohl in den Augen Mathieus sehen, daß er unterrichtet war, und hielt es für geraten, in Gegenwart ihrer Mutter nicht länger auf diesem Punkt zu verweilen, denn sie hatte es nicht für notwendig befunden, dieser ihren ersten Fehltritt einzugestehen. Es war die gewöhnliche Geschichte der hübschen Arbeiterinnen, die, auf der Straße und in der Werkstätte aufgewachsen, mit zwölf Jahren verdorben sind, bereits alles wissen, aber sich aus Berechnung bewahren, in der wohlüberlegten Erkenntnis, was sie wert sind. Sie, die unter der Oberfläche ihrer scheinbaren Unbesonnenheit sehr schlau war, hatte lange auf eine nicht zu ungünstige Gelegenheit gewartet. Aber wie so viele andre hatte sie sich eines Tages selbstvergessen einem Kameraden ergeben, der noch desselben Abends davongegangen war. Es war der Wunsch, diese Dummheit gutzumachen, der sie sodann in die Arme des millionenreichen Chefs getrieben hatte, als intelligente Tochter des Pariser Pflasters, die ihrerseits das Verlangen hatte, um eine Stufe zu steigen, von den höheren Genüssen zu kosten, von dem Luxus, den sie in den Schaufenstern der großen Geschäfte mit den Augen verschlang. Nun aber hatte sie in Beauchêne einen Genußmenschen von so rücksichtslosem Egoismus gefunden, von einer so ungeheuren Unempfindlichkeit gegen alles, was nicht sein Interesse oder sein Vergnügen war, daß sie aus der Episode betrogen, in unwürdigster Weise bestohlen hervorging, nachdem sie alles gegeben hatte, was sie besaß, ihre Jugend, ihre blühende Frische, ihren milchweißen Körper, ein wahrer Frühlingsschmaus, und nichts davongetragen hatte, als dieses unglückselige Kind, diese natürliche Folge, vor welcher alle Mädchen in solch betäubter Erstarrung stehen wie vor dem unvorhersehbaren Ereignis eines Blitzschlages.
    »Jedenfalls,« fuhr sie leidenschaftlich fort, »wird er nicht zu behaupten wagen, daß das Kind nicht von ihm ist. Das wäre eine unerhörte Lüge. Er braucht sich nur an die Daten zu erinnern, es ist so klar wie die Sonne. Ich habe es mir ausgerechnet, und ich will es ihm beweisen, wenn er will. Sie können mir wohl glauben, Monsieur, daß ich nicht imstande wäre, in einer so ernsten Sache eine Lüge zu sagen. Ich schwöre Ihnen, daß ich mit niemand verkehrt habe, als mit ihm, daß er der Vater des Kindes ist, so wahr meine Mutter hier steht und mir zuhört. Verstehen Sie wohl, ich kann es beschwören, ich würde es beschwören, und wenn ich unter der Guillotine läge! Sagen Sie ihm das, Monsieur, sagen Sie ihm das, und wir wollen sehen, ob er das Herz hat, mich auf der Straße zu lassen!«
    Ihr Ton war so aufrichtig, so aus der Seele kommend, daß Mathieu überzeugt war. Offenbar sprach sie die Wahrheit. Jetzt weinte die Mutter, mit kurzen, fortgesetzten Schluchzern; und auch die beiden kleinen Mädchen wurden von der Rührung der Szene überwältigt, brachen in Wehklagen aus, beschmutzten ihre Gesichter mit ihren Tränen. Dieses Elend schnitt Mathieu ins Herz, und er gab nach.
    »Mein Gott, ich will ja gern einen Versuch machen, aber ich kann Ihnen für den Erfolg nicht bürgen. Ich werde Sie wissen lassen, was ich habe erreichen können.«
    Die Mutter und die Tochter ergriffen seine Hände und wollten sie küssen. Es wurde vereinbart, daß Norine diese Nacht bei einer Freundin schlafen sollte, während über ihr Schicksal entschieden wurde. Und in der menschenleeren Straße, wo man nichts hörte als die Atemstöße der benachbarten Fabriken, blies der unbarmherzige Schneewind eisiger als je, peitschte die vier armseligen Gestalten, die vor Kälte und Kummer unter ihren dünnen, ärmlichen Kleidern zitterten. Sie gingen davon mit geröteten Gesichtern, mit von der Kälte erstarrten Fingern, wie von dem erbarmungslosen Eishauch des Winters weggetragen. Und er sah ihnen nach, wie sie um die Straßenecke bogen, die weinende Mutter mit ihren drei betrübten Kindern.
    Während Mathieu in die Fabrik zurückkehrte, bereute er bereits, das Versprechen gegeben und damit vielleicht nur vergebliche Hoffnungen bei den armen Frauen erregt zu haben. Wie sollte er die Sache anfassen? Was sollte er sagen? Und der Zufall wollte, daß er, in sein Bureau tretend, Beauchêne da fand, der ihn erwartete, um eine Auskunft in Bezug auf eine Maschine zu verlangen.
    »Wo waren Sie denn, mein Lieber? Seit einer Viertelstunde lasse ich Sie überall suchen.«
    Mathieu wollte einen Vorwand gebrauchen, um sich zu entschuldigen, als ihm plötzlich

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