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Fruchtbarkeit - 1

Fruchtbarkeit - 1

Titel: Fruchtbarkeit - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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nach Hause zurückzukehren!
    »Oeffnen Sie die Tür,« bat Norine, »ich möchte sie vorbeigehen sehen.«
    Victoire öffnete die Tür, die auf den Gang führte. Seit einigen Minuten hörte man Geräusch im Nebenzimmer. Und bald darauf erschien Charlotte, taumelnd wie betrunken, von zwei Frauen gestützt, die sie fast trugen. Ihre schönen, weichen Augen, ihr reizender und gütiger Mund drückten nur mehr Schmerz und Verzweiflung aus; und die vornehme Haltung ihrer zarten Gestalt war vernichtet von der Wucht ihres namenlosen Unglücks. Als sie jedoch die Tür offen sah, hielt sie an und rief Rosine mit schwacher Stimme, ein schattenhaftes Lächeln auf den Lippen.
    »Kommen Sie, mein Kind, ich möchte Ihnen noch einen Kuß geben. Ach, ich bin nicht sehr stark, aber vielleicht führe ich es doch durch. Leben Sie wohl, mein Kind, und auch Sie, meine Lieben. Seien Sie glücklicher!«
    Man trug sie weiter, sie verschwand.
    »Sie hat einen Knaben gehabt, wissen Sie,« sagte Victoire. »Und sie hatte sich so lange nach einem gesehnt! Aber sie hatte sich so abgehärmt, daß er zwei Stunden nach seiner Geburt starb.«
    »Ein großes Glück für sie,« sagte Norine.
    »Gewiß,« stimmte Rosine sanft mit ihrer jungfräulichen Miene bei. »Kinder, die unter solchen Umständen geboren werden, machen niemand Freude.«
    Mathieu hörte fassungslos zu. Seine Augen behielten noch die entsetzliche, die unvergeßliche Vision dieses Gespenstes, das da vorbeigezogen war, dieser unbekannten Dulderin, die mit der offenen Wunde von dannen ging, dieser tragischen Märtyrerin der geheimen und schuldigen Niederkunft. Und er sah auch die andern drei vor sich: Amy, die Abwesende, die ihre Last so gefühllos auf der fremden Erde abwarf; Victoire, die betäubte Sklavin, Gegenstand des Vergnügens für den Herrn, dem sie zufällt, mit einem Kind morgen, dann wieder eins, und wieder eins; Rosine, die willfährige Blutschänderin, dieses wohlerzogene, sanfte Mädchen, das mit harmlosem Lächeln das Monstrum trug, das man vernichten würde, damit sie später eine geschändete und geachtete Ehefrau werden könne. In welche Hölle war er da geraten, in welchen Pfuhl der Scheußlichkeit, der Laster und der Leiden? Und diese Entbindungsanstalt war die beste, die anständigste des Viertels! Es war also wahr, man bedurfte solcher Zufluchtsstätten für die gesellschaftlichen Greuel, geheimer Asyle, wohin unselige schwangere Frauen sich zurückziehen konnten! Es war dies also das notwendige Sicherheitsventil, die tolerierte Einrichtung, womit der Kindsmord und das Abortieren bekämpft werden sollten. Die göttliche Mutterschaft wurde in dieser versteckten Pfütze vernichtet, die triumphierende Tat des Lebens fand in dieser Kloake ihr Ende. Man müßte sie mit religiöser Weihe umgeben, und statt dessen wurde sie zum schmutzigen Geschäft eines schmutzigen Hauses, wurde die Mutter entwürdigt, besudelt, hinausgejagt, das Kind gehaßt, verwünscht, verstoßen. Der ganze ewige Strom der Befruchtung, der durch die Adern der Welt rollt, alle die keimende Menschheit, die die Körper der Frauen schwellt, wie die weite Erde im Frühjahr geschwellt wird – alle diese Saat wurde entehrt, im voraus herabgewürdigt, der Schmach überliefert. Wie viel Kraft und Gesundheit und Schönheit gingen hier verloren! Er sah sie nun alle aus dem Unbekannten hierher auf dem Wege, sah sie mit tiefstem Mitleid, die unglücklichen schwangeren Frauen, die, welche ihre Armut auf die Straße setzte, sowie die, welche sich verbergen mußten, die Heimlichen, die Schuldigen, die falsche Namen angaben und im geheimen Kinder gebaren, welche man in das dunkle Elend zurückschleuderte, dem sie entstammten. Dann überkam ihn, inmitten des Jammers, der ihm das Herz zusammenschnürte, ein weicheres Gefühl: war nicht auch das Leben, trotz allem und allem, mußte man nicht jedes sprießende Reis in dem großen Menschheitswalde willkommen heißen? Und waren es nicht häufig die mächtigsten Eichen, die unter widrigen Umständen gewachsen waren, deren Wurzeln zwischen Steinen ihren Weg hatten suchen müssen?
    Als Norine sich wieder mit Mathieu allein befand, bat sie ihn, bei Madame für sie zu sprechen, daß sie ihr Kaffee zum Mittagstisch gebe. Da er ihr zehn Franken monatlich als Taschengeld bringen werde, so wolle sie ihn lieber bezahlen. Sie bat ihn dann, sie im Salon unten zu erwarten, bis sie angekleidet sei.
    Im ersten Stock irrte sich Mathieu zuerst und öffnete die Tür des gemeinschaftlichen

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