Fruchtbarkeit - 1
Tatsachen. Einen Augenblick atmete Mathieu erleichtert auf, er hielt sie schon für gerettet, denn sie waren um die Ecke der Rue La Boëtie gebogen und wendeten sich gegen Grenelle, mit zögernden und resignierten Schritten. Aber sie hielten abermals inne und wechselten wieder einige in Verzweiflung gestammelte Worte. Und sein Herz krampfte sich zusammen, als er sah, daß sie wieder umkehrten, die Rue La Boëtie hinabgingen und die Rue de la Pépinière bis zur Rue du Rocher durchschritten.
Mathieu war ihnen gefolgt, ebenso zitternd und mit zerrissener Seele wie sie selbst. Er wußte, wohin sie gingen, aber er wollte die schreckliche Gewißheit haben. Dreißig Schritte vor dem elenden schwarzen Hause des alten Paris, an der Stelle, wo der abschüssige Teil der Rue du Rocher sich zu senken beginnt, blieb er stehen und verbarg sich in einem Haustore, denn er ahnte, daß das unselige Paar sich noch einmal umsehen werde. Und so geschah es auch: als die Morange vor dem dunkeln und übelriechenden Torweg angekommen waren, gingen sie zuerst daran vorbei, indem sie einen scheuen Blick auf das schlecht gemachte gelbe Schild warfen, und kehrten dann um, um sich zu überzeugen, daß niemand sie sehe. Sie zögerten nicht mehr, sie betraten die Schicksalspforte, die Frau zuerst, dann der Mann, denn sie wollte offenbar, daß er auch mit dabei sei. Das alte, rissige Haus, das eine Atmosphäre von Kloake und Verbrechen ausströmte, hatte sie verschlungen.
Bebend gleich ihnen, blieb Mathieu auf dem Platze und folgte ihnen im Geiste, an der Hand seiner Erinnerungsbilder. Er sah sie, wie sie sich den Torweg entlang tasteten, den feuchten Hof durchschritten, von dem Dienstmädchen mit schmutziger Schürze eingelassen, und in dem kleinen, einem vernachlässigten Hotelzimmer ähnlichen Salon von Madame Rouche empfangen wurden, der Frau mit der großen Nase der schlauen Mörderin und dem stereotypen sauersüßen Lächeln. Und das Geschäft wurde besprochen, und man einigte sich. Hier handelte es sich nicht mehr bloß um die heimlichen und verwünschten Mutterschaften, die schuldbeladenen und entehrenden Geburten, die ihm bei Madame Bourdieu das Herz zusammengeschnürt hatten; es war der feige und gemeine Mord, was man hier praktizierte. Verführte Mädchen, die in dem Verführer nicht den Vater angeben können, Dienstmädchen, für die das Kind eine unerträgliche Last ist, verheiratete Frauen, die um keinen Preis Mütter werden wollen, mit oder ohne Einverständnis des Gatten, kamen verstohlen in diese Höhle, stürzten sich alle in diesen mörderischen Schlund, diese Werkstätte der Verderbnis und der Vernichtung. Das abscheuliche Instrument der Henkerin verrichtete lautlos sein Werk, und Tausende von Leben fielen in den Abgrund.
Während unter der strahlenden Sonne der Strom der Lebewesen schwoll und überquoll, der Lebenssaft in unzählbaren Röhrchen nach oben stieg, zerstörten die kleinen, dürren Hände der Rouche die Keime im Hintergrunde dieser finsteren Mördergrube. Es gab keine verbrecherischere Entweihung, keine schändlichere Vergewaltigung der ewigen Fruchtbarkeit der Erde.
5
Diesen Morgen, den zweiten März, bei Tagesanbruch, fühlte Marianne die ersten Wehen. Sie wollte vorerst Mathieu nicht wecken, der neben ihr in seinem Eisenbette schlief. Gegen sieben Uhr jedoch, als sie ihn sich rühren hörte, hielt sie es für geraten, ihn zu verständigen. Er hatte sich aufgerichtet, um ihr die Hand zu küssen, die sie außerhalb der Decke herabhängen ließ.
»Ja, ja, mein Schatz, liebe mich, hätschle mich – ich glaube, heute wird es sein.«
Seit drei Tagen warteten sie schon, wunderten sich bereits über die Verzögerung. Im Augenblicke war er auf den Beinen und fragte bestürzt:
»Du hast Schmerzen?«
Sie lachte, um ihn zu beruhigen.
»Nein, noch nicht zu sehr. Es fängt ein wenig an. Oeffne das Fenster und bringe alles in Ordnung. Wir werden ja sehen.«
Als er die Jalousien öffnete, strömte heller Sonnenschein ins Zimmer. Der weite Morgenhimmel war von entzückender zarter Bläue, ohne ein Wölkchen. Ein warmer Vorfrühlingshauch kam herein, und im Garten draußen sah man die spitzenartig feinen Blätter eines bereits begrünten Fliederbusches.
»Sieh doch nur, Liebling, wie schön es ist! Wir haben Glück, er wird im Sonnenschein zur Welt kommen, der liebe Kleine!«
Ehe er sich ankleidete, setzte er sich noch einmal an ihre Seite, betrachtete sie genau und küßte ihr die Augen.
»Sieh mich einmal
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