Frühling der Barbaren
begleitete er ihn immer weiter hinaus und schwamm dann alleine zurück. Als die Frau des alten Hafenlotsen starb, gab der Großvater das Schwimmen nicht etwa auf, denn er hatte oft das Bedürfnis, darüber nachzudenken, worüber seine Frau so traurig gewesen war, und sich selbst einen feigen, alten Schwachkopf zu schimpfen, weil er sich nie getraut hatte, zu fragen. Als Rachid zehn Jahre alt war, schwammen sie zum ersten Mal zusammen zur Boje. Eine Weile dümpelten sie im warmen Wasser und hielten sich dabei an den rostigen Griffen fest. Auf dem Rückweg verließ Rachid bald die Kraft. Er klammerte sich um den faltigen Hals seines Großvaters, der den ganzen Weg mit ihm zurückschwamm. An jenem Tag kamen sie erst lange nach Einbruch der Dunkelheit an Land. So etwas sollte Rachid nie wieder passieren. Zwei Tage später schwammen sie wieder hinaus, und Rachid schaffte den ganzen Rückweg alleine. Von diesem Tag an schwammen sie jeden Tag zur Boje, manchmal zwei Mal. Bald schon schwamm Rachid schneller als sein Großvater.
Eines Tages wurde ein Mann vom tunesischen Sportverband auf ihn aufmerksam. Rachid bekam einen Trainer, zog unter dessen Anleitung viele Stunden unermüdlich Bahnen im großen Becken des Sportvereins und schwamm dennoch fast täglich mit seinem Großvater zur Boje hinaus. Mit sechzehn wurde er ins nationale tunesische Kader berufen. Schwamm bei zwei Olympiaden und großen internationalen Wettkämpfen mit. Nie aber schaffte er es bei den prestigeträchtigen Wettbewerben im Becken auf die vorderen Plätze. Sein Metier blieb das Meer, die lange Distanz, fünfundzwanzig Kilometer und mehr. Hier brachte er es zu lokalem Ruhm. Wurde tunesischer Meister, afrikanischer Meister und schaffte es sogar auf das Podest einer Weltmeisterschaft. Sein Großvater begleitete ihn zu fast allen Wettkämpfen. Zusammen bereisten sie die Schwimmhallen der Welt, Schwäbisch-Hall, Fukuoka, Rom, Santa Fee, Helsinki. Der alte Lotse mit der gegerbten Haut starb am Beckenrand der städtischen Schwimmhalle in Samara, dreitausend Kilometer vom offenen Meer entfernt.
Rachid kehrte nach Sfax zurück. Verkaufte das kleine weiße Haus. Nie mehr wollte er das Meer sehen. Er heuerte als Dattelpflücker in der Oase Tschub an. Als Slim Malouch das Kommando über die Oase übernahm, blieb Rachid und ließ sich als Gärtner im Thousand and One Night anstellen. Doch weil er der Einzige der Angestellten war, der schwimmen konnte, verpasste man ihm bald eine weiße Badehose und kommandierte ihn an den Beckenrand ab. Rachid tat es nur widerwillig. Aber er hatte sich an die Wüste gewöhnt und wollte nicht mehr weg. Bald schon begriff er, dass der Pool des Thousand and one Night nicht das Meer war, und als nach drei Jahren immer noch keiner der Gäste zu ertrinken gedroht hatte und jeder Notfall ausblieb, der ihn gezwungen hätte, ins Wasser zu gehen, er sich also damit begnügen konnte, morgens die ertrunkenen Eidechsen mit einem langen Kescher aus dem Wasser zu fischen, akzeptierte er seine neue Rolle als Bademeister. Trotzdem hatte er sich gefreut, als ihm Saida den Auftrag erteilte, die beiden Touristen in die Wüste zu begleiten.
Im ersten Moment war es ein Reflex, dem Toyota hinterherzurennen. Als er aber sah, wie der Engländer triumphierend die Faust zum Himmel reckte, nahm er es als Wettkampf. Drei Kilometer rannte er der Staubwolke hinterher. Manchmal holte er auf, dann wieder fuhren sie ihm etwas davon. Aber nie gelang es ihnen, ihn abzuhängen. Er spürte es, er konnte ewig laufen, seine gewaltigen Lungen sogen die heiße Wüstenluft ein, er hatte so viel Kraft, so viel Ausdauer, er dachte an seinen Großvater, den alten Lotsen, wie sie sich an dem rostigen Griff festgeklammert hatten und den großen Schiffen zusahen, die in der Ferne vorbeizogen, und wie über ihnen die Glocke hämmerte, im Takt des Wellengangs, so laut, dass sie einander anschwiegen. Er konnte ewig rennen. Ihn würden sie nicht abhängen. Aber dann musste er an seine traurige Großmutter denken, und eine große Melancholie bemächtigte sich seiner, sodass er stehen blieb. «Hurensöhne, verfickte», schrie er den beiden Touristen hinterher und trabte zurück ins Hotel.
«Obwohl», so fuhr Preising in seiner Erzählung fort, «wir bald wieder eine befestigte Straße erreichten, war die Reise doch recht unkomfortabel. Allerdings gab sich Sanford alle Mühe, ein angenehmer und unterhaltsamer Reisegefährte zu sein, und versorgte mich mit allerlei Informationen über
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