Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frühling der Barbaren

Frühling der Barbaren

Titel: Frühling der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Lüscher
Vom Netzwerk:
persönlich. Doch denselben Eindruck machte Rachid, der sich mit unvermindertem Tempo und pumpender Brust durch die Staubwolke schob. Endlich schienen wir ihn abzuhängen, jedenfalls verschwand er nun ganz in dem hochgewirbelten Staub. Sanford lachte noch eine Weile hysterisch, um dann unvermittelt abzubrechen und drei Mal hintereinander zu verkünden, er könne schon selbst auf sich aufpassen und brauche keinen Führer. Mir war nicht ganz wohl bei der Sache. Vielleicht wäre ein Führer doch ganz gut gewesen, und es war nicht die feine Art, Rachid einfach stehen zu lassen. Zudem, ich muss es zugeben, fürchtete ich mich ein wenig vor Saidas Reaktion. Sie würde über unsere Eigenmächtigkeit gar nicht erfreut sein. Allerdings war es nun im Wagen auch wesentlich komfortabler, du weißt, wie ungern ich beengt sitze.»
    Rachid rannte, verborgen hinter der gigantischen Staubwolke, die Sanford durch seinen erregten Fahrstil verursachte, unbemerkt von den beiden, ganze drei Kilometer hinter dem Wagen her. Rachid, da hatte Sanford recht, war zwar der Bademeister des Resorts, aber Rachid war ein Bademeister mit Geschichte. Einer Geschichte, die mit einem Unfall auf einer Autobahnauffahrt an der Peripherie von Toulouse begonnen hatte, den der achtjährige Rachid als Einziger seiner Familie überlebt hatte und in dessen Folge er nach Tunesien zurückgeschickt worden war, wo sich seine Großeltern, die in Sfax lebten, um ihn kümmerten.
    Sein Großvater, ein kleiner Mann, dessen salzgegerbte Haut wie angekohltes Krepppapier an ihm hing, war der letzte der berühmten schwimmenden Hafenlotsen von Sfax, zu jener Zeit, als der kleine Rachid in sein Haus kam, aber längst außer Dienst. Abgelöst von jungen Männern mit staatlichen Lotsendiplomen und stählernen Lotsenschiffen, mit denen sie den Frachtschiffen entgegenfuhren, statt zu schwimmen, wie es Rachids Großvater ein Leben lang getan hatte, bei jedem Wetter, auch wenn die Wellenkämme mannshoch über ihm aufragten, immer der Boje mit der großen Glocke entgegen, die meilenweit draußen im Mittelmeer dümpelte und an der er sich festklammerte, um manchmal stundenlang auf den angekündigten Frachter zu warten. Wenn sich die gewaltige Masse Stahl dann endlich in der Dunkelheit vor ihm erhob, ließ er sich an der Bordwand entlangtreiben, tastete nach der Strickleiter, kletterte diese behände hoch und stellte sich nass und tropfend neben den Steuermann, um mit sicherer Hand den Weg durch die tückischen Untiefen in den Hafen von Sfax zu weisen.
    Jener Mann also, Rachids Großvater, hatte das Pech, eine böse Frau geheiratet zu haben, und so machte es ihm nichts aus, stundenlang wie ein Korken im Wasser an der gelben Boje zu treiben, sich mit wechselnden Händen an einem rostigen Haltegriff festzuklammern und gerade so schnell, wie unbedingt nötig, Wasser zu treten. Er schwamm gerne hinaus aufs offene Meer, weg von dem kleinen Häuschen auf der Klippe. Auch wenn er draußen an der Boje viel Zeit hatte, darüber nachzudenken, warum seine Frau böse war. Manchmal dachte er, dass sie vermutlich nur traurig war, und wenn der Frachter besonders lange auf sich warten ließ oder die Wellen besonders hoch waren und die Glocke besonders laut schlug, dachte er, dass er es war, der sie traurig machte. Gelegentlich nahm er sich vor, sie, wenn er wieder zu Hause war, zu fragen, was sie denn so traurig mache. Immer wenn er diesen Entschluss gefasst hatte, musste er sich sehr zusammenreißen, nicht sofort zurückzuschwimmen und zu fragen. Er schwamm nie zurück, und er fragte nie, zu sehr fürchtete er ihre Antwort.
    Als sein einziger Sohn auf einer Schnellstraße in Frankreich starb und ihm seinen Enkel hinterließ, musste er eigentlich schon lange nicht mehr hinausschwimmen, aber mit seiner Frau war es nicht netter geworden, und eine andere Arbeit fand er nicht, also verbrachte er seine Tage auf der Hafenmole in der Gesellschaft anderer älterer, arbeitsloser Männer, und wenn er das Gefühl hatte, dass ihm das kleine weiße Haus immer näher rückte, bis er meinte, es in seinem Nacken zu spüren, sprang er ins Wasser und schwamm hinaus zur gelben Boje. Für Rachid war es bei seiner Großmutter auch nicht lustig, und so kam es, dass er bald seine Tage bei den alten Männern auf der Hafenmole verbrachte und versuchte, den kleinen Kopf seines Großvaters mit den grauen Haaren zwischen den Wellenkämmen auszumachen.
    Rachid lernte schnell schwimmen. Sein Großvater brachte es ihm bei. Und bald

Weitere Kostenlose Bücher