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Frühling der Barbaren

Frühling der Barbaren

Titel: Frühling der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Lüscher
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vorgestellt hatte. Saida schien keineswegs erleichtert, als sie ihn sah.
    Zu seinem Glück war sie sehr mit den Vorbereitungen für das Hochzeitsfest beschäftigt und konnte ihm nicht mehr als ein paar Minuten ihrer Zeit widmen. Genug aber, um einen recht beschämten Preising zurückzulassen. Einen beschämten und desillusionierten Preising, denn sie machte deutlich, dass sein kindisches Verhalten – seine zaghaften Ausreden auf Sanford ließ sie nicht gelten – ihr wenig echte Sorge um ihn, aber einen Haufen Verdruss und, was sie besonders aufzubringen schien und ihm schmerzhaft vor Augen führte, dass er und die Gastfreundschaft, die ihm hier entgegengebracht wurde, doch nicht mehr als ein Buchhaltungsposten waren, recht hohe Kosten verursacht hatte. Wie sie durchblicken ließ, war es für sie, als Slim Malouchs Tochter, zwar jederzeit möglich, die Staatssicherheit um einen Gefallen zu bitten, solche Gefallen waren aber am Ende nie kostenlos, ganz im Gegenteil, da sie nie in barer Münze bezahlt wurden, sondern oftmals erst nach langer Zeit zu einer Gegenleistung in Form einer wie auch immer gearteten Hilfestellung verpflichteten, war die Zinslast unberechenbar hoch.
    Preising schlich, den ehemaligen Messtechniker Prodanovic verfluchend, denn dieser hatte ihn ja eigentlich in diese Lage gebracht, am ehemaligen Schwimmweltmeister über die lange Distanz vorbei, der im Schatten einer Mauer mit einer mageren Windhündin und deren vier Welpen, die um ihn herumtollten, spielte und ihn mit demonstrativer Nichtachtung strafte.
    «Nach einer erquickenden Dusche, die bei Weitem nicht so kalt war, wie jene, die ich eben hatte über mich ergehen lassen müssen, griff ich mir meinen Messadis, einen Krug Zitronenwasser und ein Körbchen Datteln und erklomm die Stufen zur Terrasse des Beys, wo ich auf Pippa traf, die ganz in ein Blatt Papier versunken war. Sie schien recht erfreut, mich zu sehen. Eben wäre ihr Mann bei ihr gewesen, habe ganz enthusiastisch von ihrem Ausflug berichtet, sagte sie. Sie sei froh, dass ich ihn auf seinen Ausflügen begleite und auf ihn aufpassen würde, Sanford neige gelegentlich zum Leichtsinn. Ich war mir gar nicht sicher, ob ich meine Aufgabe zu ihrer Zufriedenheit erfüllt hatte. Es schien mir, als ob ich ihn nicht von einer einzigen Leichtsinnigkeit hatte abringen können. Aber immerhin hatte ich ihn am Hosengurt gesichert, als er sich zum Fotografieren über den Erdwall lehnte.
    Pippa forderte mich auf, neben ihr Platz zu nehmen, und ich erkundigte mich danach, wie sie ihren Tag verbracht habe. Sie habe, so sagte sie, und hob dabei den Bogen Papier in ihrer Hand, versucht, dieses Gedicht hier auswendig zu lernen. Sie beabsichtige, es am Abend als ihren Beitrag zur Hochzeit vorzutragen, aber es falle ihr offenbar immer schwerer, Gedichte auswendig zu lernen, das sei, so fürchte sie, eine Alterserscheinung. Doch, doch, entgegnete sie auf meine Beteuerungen, dass dies ja in ihrem Fall außerhalb des Bereichs des Möglichen sei, es schönzureden helfe nicht, früher sei es ihr außerordentlich leichtgefallen, Gedichte auswendig zu lernen, es sei ihr allerdings auch leichtergefallen, Gedichte öffentlich vorzutragen, ein Akt, den sie sich heute immer seltener zutraue, sie habe den Eindruck, die Momente, in denen ein Gedicht angebracht sei, würden immer seltener. Eine Beobachtung, deren Richtigkeit ich sofort zu bestätigen bereit war. Aber, so sagte ich, dagegen gelte es, unbeirrt anzukämpfen. Die Poesie und ihr öffentlicher Vortrag seien unverzichtbar, jener mache uns Menschen erst zu wahren Menschen.
    So weit war sie dann doch nicht bereit mir zu folgen, aber sie erwähnte einen dem Tode geweihten amerikanischen Philosophen, seinen Namen habe ich bedauerlicherweise vergessen, der die Fähigkeit, Gedichte zu zitieren, mit der etwas rätselhaften, aber wie Pippa und auch mir schien, doch sehr treffenden Wendung ‹to be able to rattle off some old chestnuts› beschrieb. Das ‹rattle off› bedeute sowohl etwas ganz schnell aufzusagen, also eigentlich das deutsche ‹Herunterrasseln›, erinnere aber auch an das warme, rasselnde Geräusch, welches zwei in der hohlen Hand geschüttelte Kastanien erzeugten. Das sei, so sagte Pippa, in vielerlei Hinsicht ein gutes Bild, das Herunterrasseln verhehle nicht das Wissen um die Lächerlichkeit, die darin liege, zu jeder Gelegenheit ein Gedicht spruchbereit in der Hinterhand zu haben, die Kastanien aber verwiesen doch deutlich auf den Herbst des

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