Fruehstueck mit Proust
ausschließlich Unternehmen vertrat. Für mich gibt es keinen Zweifel, dass die Dritte, die Ärztin der Familie, am härtesten mit mir ins Gericht gehen wird. Sie war schon immer der Ansicht, alles müsse ihren Entscheidungen folgen, um legitim zu sein. Und in diesem Fall habe ich ihre Autorität als Tochter und als studierte Medizinerin eindeutig missachtet.
Eine Mutter sieht in der Kindheit ihrer Kleinen so vieles angelegt. Alles ist schon da! Denise, zum Beispiel, wenn sie im Alter von zwei Jahren zu mir kuscheln kam, spürte ich, dass es dabei mehr um den Triumph über die beiden anderen ging als um den Wunsch nach Zärtlichkeit. Ich gab ihr immer mehr davon, in der Hoffnung, so ihren unablässigen Siegesdrang zu stillen. Obwohl sie die jüngste meiner Töchter war, führte sie die anderen an. Nur einen konnte sie nie beherrschen: ihren Bruder, das Nesthäkchen. Jades Vater war ein kleines Schlitzohr! Er wickelte sie um den Finger, indem er sie grenzenlos anhimmelte. Meiner Tochter schmeichelte das, und während sie immer unzugänglicher wurde, zeigte ihr Bruder als Jugendlicher plötzlich ein ganz klares und deutliches Profil. Als er verkündete, Bildhauerei studieren zu wollen, verstand Denise die Welt nicht mehr. Aber du hast doch Glück, du bist ein Mann und kannst Karriere in einer Naturwissenschaft machen, lag sie ihrem Bruder in den Ohren. Jean und ich verfolgten amüsiert diese Auseinandersetzungen eines Hahns und eines Schmetterlings, ohne unsere Meinung zu äußern, ohne ihre oder seine Argumente auch nur zu kommentieren. Denn diehübsche Denise hatte uns schon vor ewigen Zeiten in die Kategorie derer gesteckt, die keine Ahnung von akademischer Bildung haben! Was im Grunde ja auch stimmte. Wie auch immer, Serge stellte sich sehr geschickt an. Was kann man jemandem entgegensetzen, der einen so verehrt? Nachdem seine Schwester ihn beraten hatte, teilte er uns seinen neuesten Entschluss mit: Er wolle sich an einer naturwissenschaftlichen Fakultät einschreiben. Seinem Vater und mir verschlug es die Sprache. Machte er Witze? Als er uns das mitteilte, hielt er den Pinsel noch in der Hand. Er hatte sich im Geräteschuppen eingerichtet, um seine Bilder und Kollagen herzustellen. Denise jubilierte, doch das letzte Wort war längst nicht gesprochen. Serge war mit einem bekannten Maler befreundet, der sein Atelier in unserer Gegend hatte. Dieser Pierre Danglasse kam hin und wieder, wenn er den ganzen Tag gemalt hatte, zu uns, um Serge zu sehen, und auf Drängen meines Sohnes lud ich ihn gar nicht selten zum Abendessen ein. Dieser Mann, der die Freundlichkeit in Person war, schätzte meine Küche, vor allem aber machte er großen Eindruck auf Denise. Sie hatte sogar schüchtern für ihn Modell gestanden. Diesem großen, angesehenen Künstler konnte sie schlecht sagen, dass die Malerei ein brotloses Hobby sei. Er fand in Serges Bildern eine Anmut, die seine größte Stärke sei. Als Denise sah, dass ein zu Lebzeiten anerkannter Maler ihren kleinen Bruder förderte, ließ sie den Streit um die Berufswahl ruhen. Serge nahm also sein Grafikstudium wieder auf, während Denise sich der Medizin, der Anästhesie und später der Chirurgie zuwandte. Und sie studierte geradezu mit Verbissenheit. Manchmal tat sie mir richtig leid, ich fragte mich, wem sie etwas beweisen wollte. Ich hoffte, dass sieeines Tages als Ärztin sanftmütiger werden würde, wenn sie mit menschlicher Not konfrontiert sein würde, nicht nur mit der technischen Reparatur von Leiden, die in ihren Büchern beschrieben wurde.
»Wenn du mir von deinen Kindern erzählst«, sagte Jade, »denke ich gar nicht an meine Tanten und an meinen Vater. Als würdest du von fremden Menschen reden, die ich nicht kenne. Ich sehe sie mit deinen Augen, sie haben keine Ähnlichkeit mehr mit dem, was ich über sie weiß. Warum haben wir über all das nie geredet?«
Darauf konnte ich ihr keine Antwort geben. Bestimmt braucht es Zeit, bis so ein Gedankenaustausch zustande kommt. Aber heutzutage lässt uns das Leben nicht mehr die Zeit, das abzuwarten.
Jade ist also schon gegangen, und ich habe nicht mit ihr gefrühstückt. Sie hat es vorgezogen, mir ihr Manuskript ohne ein Wort dazulassen, als Antwort auf mein Angebot, ihr zu helfen. Ich habe noch nie einen Schriftsteller persönlich kennengelernt. Verändert es die Lektüre, wenn man den Autor kennt? Sucht man ihn in der Geschichte oder zwischen den Zeilen? Kann ich überhaupt sagen, dass ich Jade wirklich gut kenne?
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