Fruehstueck mit Proust
Wo ich doch jahrelang keine Ahnung davon hatte, dass sie sich fürs Schreiben interessiert? Und wird meine große Freude am Lesen ausreichen, um einen Roman zu beurteilen, ja, seinem Autor bei der Überarbeitung zu helfen und dem Text einen Klang zu verleihen, den er noch nicht hat?
Ich sehe eine Menge Schwierigkeiten auf mich zukommen, bevor ich das vor mir liegende Manuskript auch nur aufgeschlagen habe. Auf einmal habe ich Angst, es könnte unser gutes Verhältnis gefährden.
J ade hatte ein schlechtes Gewissen. Sie fühlte sich feige. Sie hätte Mamoune das Manuskript erklären, es ihr persönlich überreichen und nicht einfach auf dem Tisch liegenlassen sollen, als hätte sie vergessen, es zu erwähnen. Sie hätte ihr den Handlungsverlauf erklären müssen und die Personen, die alle auf die Antillen fliegen wollen und sich doch nicht kennen. Würde Mamoune verstehen, dass sie alle im selben Flugzeug sitzen und ein außergewöhnliches Erlebnis miteinander teilen werden? Wenn sie die Geschichte so nacherzählte, erschien sie ihr idiotisch und unglaubwürdig, denn im Roman würde man die verschiedenen Paare und ihre Vorgeschichte erst im Verlauf mehrerer Kapitel entdecken. »Zu viele Figuren«, hieß es in dem Brief eines Verlegers, »keine Romanhandlung«, stand in einem anderen, »Plot kommt zu spät in Gang …« Jade hatte auch die Gutachten, die sie bekommen hatte, neben das Manuskript gelegt. Was würde Mamoune dazu sagen? Egal. Sie würde sich schon selbst ein Bild machen. Wenn ein Autor neben dem Leser sitzen und seine Absichten rechtfertigen muss, taugt das Buch ohnehin nicht viel.
Dennoch hatte Jade große Angst, wenn sie es ihrer Großmutter nun zu lesen gab! Und dann … Ihr fiel plötzlich etwas ein, was sie vorher nicht bedacht hatte, und sie spürte, wie sich eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn bildete. Mamoune würde auch all die erotischen, für sie vielleicht schockierenden Passagen lesen. Stopp, dachtesie. Fange ich jetzt noch an, meinen Roman zu zensieren, nur weil meine Großmutter ihn lesen wird? Sie ist eine Leserin wie andere auch. Sie hat mir ihre Hilfe angeboten. Und sie liebt mich … Verdammt noch mal, nein! Genau das wollte Jade nicht, dass Mamoune ihr Buch mit den Augen der liebenden Großmutter las. Sie wollte wie jeder andere Autor beurteilt werden, auf den sie zufällig gestoßen war. Aber bis zu welchem Punkt würde ihr das möglich sein? Konnte Mamoune vergessen, dass es das Buch ihrer Enkelin war? Die zwei oder drei Freunde, die das Manuskript bislang lesen durften, hatten sie ermutigt, es an Verlage zu schicken. Und wenn sie sich aus Freundschaft alle getäuscht hatten? Aline, Gaël, Clara, die sich bei ihrem Frauenmagazin um die Buchseiten kümmerte, und ein befreundeter Journalist. Und natürlich Julien, der schon in den Genuss der Lektüre kam, als sie noch daran schrieb. Jade runzelte die Stirn, als sie an ihn dachte. Er fand ihren Roman immer sehr gut. Tss, dachte sie, diese bedingungslose Bewunderung hätte mir eine Warnung sein müssen!
An diesem Punkt ihrer Überlegungen merkte sie, dass sie beobachtet wurde. Sie wandte ihren Blick von dem Fenster ohne Aussicht der Metro ab und suchte nach den Augen, die sie fixierten. Sie wollte sich gleich wieder taktvoll abwenden, doch es war unmöglich, sich diesen Augen zu entziehen, zumal ein unbeschreibliches Lächeln auf dem Gesicht des jungen Mannes strahlte, der ihr gegenübersaß. Sie, die morgens und abends genauso schweigsam geworden war wie die Pariser, lächelte zurück. Und was noch seltsamer war in der Metro – er streckte ihr seine schmale Hand entgegen und stellte sich ihr vor:
»Ich bin Rajiv, ich komme aus Schweden und studiere hier in Paris.«
Über so viel Spontaneität musste sie lachen. Wie ungewöhnlich war so was in dieser Stadt! Sie hatte einen Inder vor sich, mit rabenschwarzen Augen und schwarzblauen Haaren. Seine schwedische Herkunft erschloss sich wahrlich nicht auf den ersten Blick!
»Wirklich aus Schweden?« Sie zog die Brauen hoch.
»Ich bin in Schweden geboren und habe meine ersten beiden Lebensjahre dort verbracht. Meine Mutter kommt aus diesem kalten Land.«
Seine Stimme war tief und hatte etwas Raues, das sie innerlich erschauern ließ. Schweigen herrschte in diesem Teil des Wagens, die Fahrgäste schienen sich auf einmal sehr für ihre Begegnung zu interessieren, als würde vor ihren Augen live eine Fernsehserie gedreht. Jade wurde verlegen und sprang auf, obwohl ihre Station noch
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