Fuchs, Du Hast Die Gans Gestohlen
vergessen?« fragte eine Männerstimme hinter ihr.
Sie sah sich schuldbewußt um. Die Stimme gehörte einem bebrillten Mann unbestimmten Alters in einem Parka; er stand in der Schlange hinter ihr. Er trug einen Drahtkorb mit einem bescheidenen Vorrat an Lebensmitteln. Freundlich lächelnd sagte er: »Ich halte Ihnen den Platz in der Schlange frei, wenn Sie zurückgehen und es holen wollen.«
Meredith blickte zurück in das Gewühl. »Nein, vielen Dank. Ich glaub nicht, daß ich das könnte. Trotzdem – noch einmal vielen Dank.« Aus einem Impuls heraus fügte sie hinzu: »Hier gibt es so viel zu kaufen – die Leute wissen gar nicht, wie gut sie es haben.«
Er lächelte. »Ein paar wissen es. Ein paar können sich die Dinge auch nicht leisten. Ein Schaufenster voller Waren zu sehen, wenn man nicht das Geld hat, etwas zu kaufen, ist auch nicht sehr lustig.«
Meredith runzelte die Stirn, dachte darüber nach. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, ihm eine ernsthafte Antwort schuldig zu sein. Er war nur ein Mann in der Schlange an der Supermarktkasse, aber etwas in seiner Stimme sagte ihr, daß ihre Worte ihn berührt hatten.
»Die Leute sind nicht mehr so arm wie früher«, sagte sie. »Ich weiß, daß es einigen nicht gutgeht, aber vor hundert Jahren sind sie auf der Straße verhungert.«
»Manche leben noch immer auf der Straße. Nicht hier in Bamford, zugegeben. Aber in den großen Städten … Waren Sie in letzter Zeit in London?«
»Nein, noch nicht«, sagte Meredith düster und dachte an den Schreibtisch, der im Foreign Office auf sie wartete. »Nach Weihnachten werde ich jeden Tag hinauf müssen.«
»Werfen Sie am frühen Morgen einen Blick in die Ladeneingänge. Zählen Sie die Schlafsäcke.« Die Schlange kroch ein Stückchen vorwärts. »Vielleicht verhungern sie nicht«, fuhr der Mann fort, »aber sie kommen sich verloren vor.« Er schob seine Brille, die ihm ständig hinunterzurutschen schien, auf die Nase zurück. »Es gibt so viel, wie Sie sagen, und allen um Sie herum scheint es gut genug zu gehen, daß sie es sich leisten können. Vor fünfzig Jahren war es keine Schande, arm zu sein – es war ein Unglück, das sie mit Tausenden teilten. Heute müssen sie sich für ihre Armut schämen, man gibt ihnen zu verstehen, daß es ihre Schuld – eine Unzulänglichkeit ist, an der sie leiden. Viele junge Leute sind voller Groll, die Gesellschaft grenzt sie aus. Man kann es ihnen nicht übelnehmen.«
»Ja, das glaube ich auch«, sagte Meredith.
Er lächelte verlegen. »Ich wollte Ihnen keinen Vortrag halten. Aber das Thema interessiert mich zufällig ganz besonders.«
»Das ist schon in Ordnung. Aber Sie haben nur ein paar Sachen in Ihrem Korb, gehen Sie ruhig vor«, bot sie ihm an. »Mein Wagen ist voll.«
»Nein, nein, ich hab’s nicht eilig. Sie sind jetzt dran.«
»Die nächste bitte«, sagte das Mädchen an der Kasse scharf, und Meredith war gezwungen, nachzurücken und ihre Waren hastig auf das Förderband zu legen.
Nachdem sie bezahlt hatte, schob sie den widerspenstigen Einkaufswagen zu ihrem Auto. Am Himmel sammelten sich jetzt bedrohlich dunkle Wolken, und ein kalter Wind wehte. Meredith packte alles weg und brachte dann ihr Drahtgefährt in den »Einkaufswagenpark« zurück. Sie fröstelte, denn nach der drückenden Wärme im Supermarkt spürte sie die Kälte doppelt. Vorsichtig setzte sie zurück, um den Leuten und ihren überladenen, quietschenden Einkaufswagen auszuweichen, und machte dann, daß sie aus der Stadt herauskam.
Sie war überrascht, wie erleichtert sie sich fühlte, wieder in Pook’s Common zu sein. Im Vergleich zu Bamford war es ein stiller Hafen des Friedens. Rose Cottage hatte keine Garage, aber einen Stellplatz, dem der größte Teil des Vorgartens zum Opfer gefallen war. Sie stieg aus dem Wagen und zitterte im eisigen Wind, der ihr durch den Anorak bis ins Mark zu dringen schien. Die dunklen Wolken waren kompakter geworden, und obwohl es erst später Vormittag war, war es dunkel wie im abendlichen Zwielicht. Meredith rieb die rotgefrorenen Finger aneinander und ging zum Kofferraum, um ihre Einkäufe auszuladen. Als sie noch dabei war, hörte sie Bremsen quietschen, und ein Wagen hielt vor dem Cottage gegenüber. Sie blickte auf. Die Fahrertür wurde zugeworfen, und zu ihrer Überraschung war eine Gestalt ausgestiegen, die sie kannte.
Es war das Mädchen mit den kastanienroten Haaren, das sie in der Stadt gesehen hatte. Es schaute über die Straße, entdeckte Meredith,
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