Fuchserde
in Kraft. Die Spannungen zwischen Österreich und Nazideutschland nahmen indes kein Ende und fanden im Juli 1934 mit der Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß durch Nationalsozialisten einen vorläufigen Höhepunkt. Im März 1938 okkupierten deutsche Truppen Österreich. Kurz darauf vollzog Berlin den Anschluss Österreichs an Nazideutschland.
* * *
Es geschah an einem schwülen Sommerabend. In der Nähe von Bozen. Die Männer sind während der Vorstellung in Barbaras Wohnwagen eingedrungen, irgendwann zwischen dem Auftritt des Clowns und der Pferdedressur. Jedenfalls zu einer Zeit, als alle deine Verwandten mit ihren Kostümen, der Schminke und dem Muskelnaufwärmen beschäftigt waren oder mit der Vorbereitung der Tiere. Barbara hätte sich längst hinterm Vorhang bereit halten sollen, ihr Auftritt stand kurz bevor. Doch Luca konnte sie nirgendwo sehen. Seine Schwägerin war eine der Hauptattraktionen: die erste Feuer schluckende Frau. Ein Gemisch aus Ärger über Barbara und Sorge um sie wirbelte durch Lucas Kopf. Sie war noch nie zu spät gekommen. Luca schickte Peter, seinen Sohn, um nach ihr zu sehen.
Peter war damals ungefähr in deinem Alter, mein kleiner Fuchs. Es vergingen mehrere Minuten bis er zurück war. Und das, obwohl er so schnell rannte, dass er kaum die Kurven schaffte, zwischen den Wohnwagen, den gespannten Seilen, den Podesten für die Löwen, den angebundenen Pferden und dem Tigerkäfig. Sein Atem ging wild und seine vor kurzem erst männlich gewordene Stimme bebte, als er, zurückgekommen und versteckt hinter dem schweren Vorhang, Luca zuzischte: »Komm Papa, du musst kommen. Es ist was passiert.«
Gleich nachdem die Luftakrobatiknummer anstelle von Barbaras Auftritt begonnen hatte und Lucas Abwesenheit den wenigen Zuschauern nicht auffallen konnte, rannten sie gemeinsam zum Wohnwagen. Sie stürzten hinein und sahen Barbara. Peter hatte ihr die Fesseln zuvor bereits gelöst und auch das zusammengeknotete, speichelgetränkte Tuch aus dem Mund genommen. Barbara saß noch immer reglos auf ihrem Sessel und starrte wie verrückt geworden auf den Tisch vor ihr. Ihre Bluse und ihr Rock waren blutig und zerrissen. Doch das bemerkten Luca und Peter nicht gleich. Sie starrten woanders hin. Sie starrten auf Barbaras Kopf. Als sie zu begreifen begannen, fuhr ihnen Barbaras Demut dicht unter die Haut. Dort gefror sie einen langen Atemzug später zu Schmerz und Zorn. Barbara war ihr Stolz genommen worden. Der Stolz jeder Jenischen. Barbara hatte keine Haare mehr. Sie war kahl geschoren. An manchen Stellen blutete ihre nackte Kopfhaut, an anderen Stellen zeichneten stehen gebliebene Stoppeln unregelmäßige Flecken. Ihr noch immer schön anzusehender, glänzender, langer, mit großer Sorgfalt geflochtener Zopf lag auf dem Tisch. Auf der Tischplatte stand mit schwarzer Ölfarbe geschmiert: »Scheiß Zigeuner! Raus aus Italien!«
Luca versuchte ruhig zu wirken und seine Stimme nicht zittern zu lassen. »Wer war das?«, fragte er und beugte sich zu seiner Cousine. Doch Barbara reagierte nicht. Sie schien Luca nicht einmal zu bemerken.
»Es waren Schwarzhemden, Papa«, antwortete Peter. »Ungefähr ein Dutzend. Ich habe sie gesehen, als sie sich davongemacht haben. Sie sind einfach weggegangen. Sie sind nicht einmal gelaufen. Sie taten, als ob sie das Recht gehabt hätten, Papa, das Recht uns anzutun, was immer ihnen auch einfällt.«
Stell dir das einmal vor, mein kleiner Fuchs: Der Anführer der Schwarzhemden, den Peter sogar wiedererkannte, hatte sich im Gehen kurz umgedreht, ihn verächtlich angesehen und ausgespuckt, als sei nicht er der Schuft, sondern Peter und die Seinen. Das hat deinen damals blutjungen Verwandten noch tiefer getroffen als das scheußliche Verbrechen selbst. Es war diese Selbstsicherheit, diese absonderliche Überheblichkeit, die ihn lähmte und die ihm in diesem Augenblick jeden Mut und alle Kraft nahm. Peter konnte sich noch genau an den Mann erinnern. Es war der Bauer gewesen, mit dem sein Vater nur zwei, drei Tage davor noch ein rasches Geschäft abgewickelt hatte, knapp bevor sie am Abend weitergezogen waren. Ein Geschäft, erinnerte sich Peter, das durchaus in beider Interesse gewesen war. Peter erzählte, dass er sich damals sogar gewundert hatte, weil sein Vater dem Bauern einen so guten Preis für das Pferdehaar gemacht hatte. Das sah seinem Vater nämlich gar nicht ähnlich, einem ahnungslosen Gadscho einen so guten Preis zu machen. Und
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