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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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unbemerkt verflogen, wie sie gekommen war.
    Österreich hatte gegenüber Italien für deine Ahnen einen Vorteil: Für die österreichischen Gadsche war Zirkus noch etwas Außergewöhnliches. Ihnen blieb der Mund offen vor Staunen über all die Attraktionen. Lowi freilich hatten sie auch nicht mehr als die Italiener. Das, mein kleiner Fuchs, verband zu dieser Zeit so ziemlich alle Menschen in Europa.
    Umso lieber nahmen Burschen aus den Dörfern, die beim Aufbau des Zirkus geholfen hatten, die Einladung Lucas an, am Abend beim Funk mitzuessen. Die Einladung war allerdings nicht ganz uneigennützig: Die Burschen hatten, ohne es selbst so recht zu merken, die Aufgabe, deinen italienischen Ahnen Deutsch beizubringen. Die neue Sprache war schwieriger, als es Luca sich und seinen Leuten versprochen hatte. Denn bald stellte sich heraus, dass die Österreicher wider sicheres Erwarten gar nicht Deutsch redeten. Ganz und gar nicht. Vielmehr schien es deinen italienischen Vorfahren, als ob jedes Tal hier seine eigene Sprache habe: eine rauer und verknorxter als die andere. Aber mit der Zeit ging es ja dann doch. Und besonders die Jungen lernten rasch eine ganze Fülle von Tiroler Dialekten. Später, als sie weiter zogen, kam dann noch das Salzburgische und das Oberösterreichische dazu.
     
    Die jungen, hungrigen Lehrer am Funkplatz* waren begeistert. Endlich bekamen sie wieder einmal was Warmes in den Bauch. Meistens sagte Luca den Burschen, es sei Hasen-, Reh- oder Hirschbraten. In Wahrheit war es freilich Tschugglbossert* oder Stachlingbraten*. Du weißt, mein kleiner, schlauer Fuchs: Beides wurde bei uns Jenischen im Laufe der Jahrhunderte aus purer Not und wegen quälendem Hunger zu köstlichen Spezialitäten. Du hast vor kurzem ja selbst miterlebt, dass besonders die Zubereitung des Stachlings* eine kleine Wissenschaft ist. Auch ich habe sie von meinem Bari* gelernt. Seit damals hat sich nichts am Rezept geändert. Schon er brannte dem erlegten Stachling mit einem glühenden Flacheisen die Stacheln weg, blies ihn mit einem dünnen Metallröhrchen wie einen Luftballon zu einer Kugel auf, verschloss ihn, packte ihn in eine Lehmschicht und legte ihn zum Garen in die Glut. Nach zwei Pfeifenlängen kannst du die Lehmschicht abklopfen und den herrlichen Stachling butten*.
     
    Der Zirkus, mein kleiner Fuchs, war für deine italienischen Vorfahren Beruf und Zuhause, er war Tag und er war Nacht, er war Traum und Wirklichkeit, er war alles für sie. Er war tatsächlich ihre Welt. Es war eine Welt, die so unendlich war, dass es ein riesiges Zirkuszelt brauchte, um sie einzuhüllen. Und stand dieses Zelt erst einmal, dann gab es die andere Welt, die Welt da draußen, gar nicht mehr. Dann war die andere Welt nicht vergessen, sondern verschwunden.
    Es war ein Leben voller Großartigkeiten und Magie, das deine Ahnen lebten. Ein Leben, das voll gestopft war mit exotischen Tieren, waghalsigen Trapezakten, unbegreiflichen Zaubereien, tollkühner Akrobatik, ein Leben voller Trommelwirbel und bebendem Atemanhalten. Für deine Verwandten war dieses Leben keine Vorstellung und auch keine Verstellung. Barbara schluckte Feuer und spürte die Hitze. Peter warf mit verbundenen Augen eiskalte Messer knapp neben den Körper und das Gesicht seiner Mutter. Und auch die Großmutter flunkerte nicht, wenn sie für Zirkusbesucher in ihrer Glaskugel nach der Zukunft Ausschau hielt. Sie fühlte, wie die Wahrheit ihren Tribut forderte und jedes Mal aufs Neue die Kraft aus ihr wich. Sie alle waren wahrhaftig, sie alle spürten sich. Und genau genommen war ihr phantastisches Treiben realer als das oft nur scheinbare, das oft bloß flach dahingelebte Leben der Fabrikanten, Beamten und höheren Büroangestellten, die in den Zirkus kamen, um sich, wie sie sagten, etwas Ablenkung und Unterhaltung zu gönnen.
     
    Auch am Abend, wenn deine Verwandten beim Funk zusammenhockten, verließ ihre Welt sie nicht. Sie erzählten einander himmlische Geschichten über wirkliche Geister, sie lauschten wahren Märchen und unglaublichen Erlebnissen, die tatsächlich passiert sind. Und freilich dachten sie auch gemeinsam über Träume nach, die wahr geworden sind.
    Mein kleiner, schlauer Fuchs, du weißt, dass das keineswegs Ablenkung war. Du weißt die Weisheiten, die in Märchen stecken, zu schätzen. Du verstehst es noch, auf die Stimmen des Flusses und des Waldes zu hören. Die wenigsten haben sich diese Gabe bewahrt. Für die meisten Menschen sprechen Steine, Pflanzen und

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