Fuchsjagd
Voicemail arbeitete. Auf der einen Seite blinkte ein Licht, das hinterlassene Nachrichten anzeigte, und in dem Kästchen unter dem Wort »Anrufe« leuchtete eine Fünf. Hinter dem Gerät waren Minikassetten in kleinen Türmen gestapelt, und bei schneller Durchsicht stellte er fest, dass jede von ihnen mit einem Datum versehen war. Die Nachrichten waren demnach gewissenhaft gesammelt und nicht regelmäßig gelöscht worden. Mark drückte auf die Taste zum Abhören neuer Nachrichten, hörte, wie das Band sich zurückspulte, und vernahm nach mehrmaligem Knacken die Stimme einer Frau.
»Sie werden nicht mehr lange den Unschuldigen spielen können – jedenfalls nicht, wenn Ihr Anwalt diese Nachrichten abhört. Sie glauben, wenn Sie uns nicht beachten, verschwinden wir – aber da täuschen Sie sich. Weiß Mr. Ankerton von dem Kind? Weiß er, dass es einen lebenden Beweis dafür gibt, was Sie getan haben? Wem schlägt sie nach, was meinen Sie wohl? Ihnen? Oder ihrer Mutter? Heutzutage ist es ja mit einer DNA-Analyse so leicht festzustellen – ein einziges Haar reicht aus, um zu beweisen, dass Sie ein Lügner und ein Mörder sind. Warum haben Sie der Polizei nichts davon gesagt, dass Ailsa am Tag vor ihrem Tod in London war, um mit Elizabeth zu sprechen? Warum geben Sie nicht zu, dass sie Sie als wahnsinnig bezeichnet hat, weil Elizabeth ihr die Wahrheit gesagt hatte?
Darum
haben Sie sie geschlagen –
darum
haben Sie sie umgebracht… Was glauben Sie denn, wie Ihrer armen Frau zumute war, als sie erfahren musste, dass ihr einziges Enkelkind die Tochter ihres Mannes ist?
Danach blieb Mark gar nichts andres übrig als zu bleiben. Jetzt war es, verrückter Rollentausch, plötzlich der Colonel, der zu beschwichtigen suchte. Er hoffe, Mark sei klar, dass das alles nicht wahr sei. Er hätte die Bänder niemals aufbewahrt, wenn an den Vorwürfen auch nur irgendetwas dran wäre. Es habe Mitte November angefangen, mit zwei, drei Anrufen jeden Tag, in deren Verlauf man ihm alle möglichen Gräueltaten vorgeworfen habe. In letzter Zeit hätten die Anrufe sich gehäuft, und das Telefon läute die Nächte durch, so dass er nicht mehr zum Schlafen komme.
Dieser letzte Punkt entsprach der Wahrheit. Obwohl das Läuten nur gedämpft durch die geschlossene Bibliothekstür schallte und die Apparate in den anderen Räumen abgestellt waren, lag Mark, der weit empfindlicher als sein Gastgeber auf das Geräusch reagierte, in der Nacht wach und wartete angespannt auf das ferne Gebimmel. Es war jedes Mal eine Erleichterung, wenn es erfolgte. Er sagte sich dann, er habe jetzt bis zum nächsten Anruf eine Stunde Zeit, um einzuschlafen, und jedes Mal schaltete sein Gehirn prompt auf höchste Betriebsstufe. Wenn keine der Beschuldigungen zutraf, warum war James dann so in Angst? Warum hatte er Mark nicht schon früher über diese Anrufe unterrichtet? Und wie – und
warum
! – hielt er das aus?
Irgendwann in der Nacht verriet ihm der Geruch brennenden Pfeifentabaks, dass der Colonel wach war. Er spielte mit dem Gedanken, aufzustehen und mit ihm zu sprechen, aber er war viel zu wirr im Kopf, um mitten in der Nacht eine Diskussion anzufangen. Es dauerte eine Weile, ehe er sich darüber wunderte, dass er den Tabak roch, obwohl das Zimmer des Colonel auf der anderen Seite des Hauses lag. Die Neugier zog ihn zum Fenster, und er sah erstaunt, dass der alte Mann in einen dicken Mantel gehüllt auf der Terrasse saß, wo Ailsa gestorben war.
Am Weihnachtsmorgen erwähnte der Colonel seine Nachtwache mit keinem Wort. Er hatte sich vielmehr größte Mühe mit seinem Aussehen gegeben, hatte ein Bad genommen, sich rasiert und frische Kleider angezogen, gerade so, als wollte er in Anerkennung der Behauptung, dass die äußere Erscheinung eines Menschen auf seinen Geisteszustand schließen lasse, Mark davon überzeugen, dass er gut ausgeschlafen und hellwach sei. Er erhob keine Einwände, als Mark erklärte, er wolle die Bänder abspielen, um zu verstehen, was vorging, sagte vielmehr, das sei einer der Gründe, weshalb er sie aufbewahrt habe. Allerdings erinnerte er Mark nochmals daran, dass sie nichts als Lügen enthielten.
Mark wusste – und das war sein Problem –, dass das so pauschal nicht stimmte, sondern verschiedene Details, die ständig wiederholt wurden, durchaus zutreffend waren. Ailsas Reise nach London am Tag vor ihrem Tod… Elizabeths Hass auf ihren Vater, wenn er in Uniform gewesen war… der Zorn des Colonel darüber, dass das Kind nicht
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