Fuehrungs-Spiel
später dann in der von mir geführten U21. Die Späher der großen Vereinsmannschaften wurden auf ihn aufmerksam. Als er ein Angebot des UHC Hamburg erhielt, zog es ihn – gegen meinen Rat – dorthin.
Meine Skepsis sollte sich – leider – schnell bestätigen: Es war im Frühjahr 1996, als Jamie mir offenbarte, dass ihm »alles über den Kopf« wachse. Der Start in Hamburg, die neue Umgebung, der anspruchsvollere Verein, nicht zuletzt die Handelsschule, an der er sich ausbilden ließ. Hinzu kam, dass ich ihn immer wieder ermahnt hatte, sich zwischen den Lehrgängen – zusätzlich zum Training im Verein – für die Nationalmannschaft mit Extraeinheiten weiterzuentwickeln.
Unser Gespräch damals ist ihm und mir noch ganz präzise in Erinnerung, denn für uns beide stand viel auf dem Spiel. Jamie erinnert sich: »Direkt nach dem Länderspiel gegen Pakistan in Hamburg hast du mich zur Seite gezogen und mir erklärt, ich solle mich jetzt erst mal nur um die Schule und mich selbst kümmern.« Ich hatte mich entschlossen, diesem Jungen eine Sonderrolle im Team zu gestatten, sein Leben als Ganzes zu begleiten und nicht nur seine sportliche Entwicklung: »Wenn du die Schule packst, bist du auf alle Fälle bei der Europameisterschaft im Sommer dabei«, sagte ich ihm. Ich hatte gerade einen Spieler nominiert, von dem ich nur vermuten konnte, wie er sich persönlich und sportlich entwickeln würde. Später wurde mir klar, dass dies keine Geste der Mitmenschlichkeit, sondern eine – zugegeben risikoreiche – Form von Führung war.
Ich wollte es wissen: Bei jedem Lehrgang und in regelmäßigen Telefonaten habe ich Jamie auf die Noten in der Handelsschule und seine komplizierte persönliche Situation in Hamburg angesprochen. Ich fragte ihn immer wieder konkret nach seinen schwierigsten Fächern, bot dafür Nachhilfe an, ließ mir seinen genauen Wochenplan zeigen und versuchte ihn weiter positiv zu steuern. Es gelang mir in seiner Hamburger Phase noch nicht! Ich war mit mir unzufrieden.
Bald merkte Jamie selbst, dass diese Stadt ihn sportlich wie menschlich überforderte, und er wechselte 1997 nach Berlin. Nach der Junioren-WM im selben Jahr wurde Jamie durch Paul Lissek, den damaligen Bundestrainer, nicht für das A-Team nominiert. Er war als Nationalspieler der Junioren für sein Team eine Autorität gewesen, jetzt aber drohte mein Projekt der Lebensbegleitung zu scheitern: Jamie schmiss wieder seine Ausbildung. Als ich dann 2000 selbst Bundestrainer wurde, wusste ich, dass ich Jamie unbedingt in mein Team zurückholen wollte.
Doch knüpfte ich diese Einladung an knallharte Bedingungen. Sowohl im B eruflichen als auch im P rivaten durfte die Zusatzbelastung keine Krisen auslösen. Dies ließ ich mir von ihm und auch seinem privaten Umfeld bestätigen. Außerdem bekam er von mir die Aufgabe, außerhalb der normalen Trainingseinheiten viele Extraschichten zu schieben, da die Intensität des Trainings bei einem Zweitligisten wie Blau-Weiß Berlin nicht ausreichte, um das Leistungsniveau der Nationalmannschaft wiederzuerlangen.
Nach weiteren Irrfahrten und nach langen Diskussionen mit mir erkannte er, dass auch dies für ihn nicht das Richtige sei. Jetzt musste ich alles auf eine Karte setzen: Gemeinsam mit ihm wohlgesinnten Menschen gelang es uns, für ihn in Berlin eine Stelle als hauptamtlicher Jugendtrainer und sportlicher Leiter für den Hockeybereich von Blau-Weiß Berlin zu schaffen.
Neben der praktischen Ausbildung zum Hockeytrainer, das war mir wichtig, forderte ich von ihm auch den theoretischen Teil des Diplom-Trainer-Studiums an der Kölner Trainerakademie. Es schien mir unerlässlich, dass er sich nicht allein auf seine Leistung auf dem Platz konzentrierte, sondern auch an der Entwicklung seiner Persönlichkeit jenseits des Sports arbeitete.
In der Arbeit mit den Jugendlichen hat er jetzt seit 2002 seine Berufung gefunden, das Studium an der Akademie in Köln betreibt er gleichzeitig mit vollem Einsatz.
Oft hat Jamie mir gesagt, wie dankbar er mir sei. Doch auch ich habe profitiert: Ich habe erfahren, was es bedeutet, als Trainer, als Vorgesetzter einen Spieler als Menschen ständig intensiv zu begleiten. Ich wollte hohe Verantwortung übernehmen, bin ein erhebliches Risiko eingegangen – wir haben gemeinsam einen Weg gefunden. Am 9. März 2002 stand Jamie Mülders als linker Verteidiger im Team des Deutschen Hockey-Bundes, das Weltmeister wurde. Heute sind wir weiter gute Freunde. Und auch, wenn wir
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