Fünf alte Damen
schlafen.
Aber diese Hoffnung wurde zunichte. In der
Tiefe der Wohnung klappte eine Tür, als käme die Hexe im Pfefferkuchenhäuschen
aus ihrem Schlafzimmer. Eine zweite Tür, und dann näherten sich eilige,
trippelnde Schritte. Die Wohnungstür, die letzte Barriere, wurde aufgerissen.
«Mein Herr! Womit kann ich dienen?»
Der diese Worte sprach, war ein
kleines, munteres Männchen von vielleicht sechzig. Um den kahlen Schädel stand
ihm ein Kranz von weißen Haaren, wie Lorbeer auf einem Dichterhaupte. Sein
Gesicht war faltig, der Mund etwas zu groß. Die Augen standen weit auseinander,
glänzten fröhlich und schienen zu wissen, wie es auf dieser Welt aussah.
Irgend etwas an diesem Kopf erinnerte
mich an ein Bild, das ich kannte. Plötzlich wußte ich es.
Schopenhauer. Schopenhauer der Zweite.
Er trug einen Eckenkragen mit einem
schwarzen, weit geschlungenen Binder, aber statt der Jacke einen geblümten
seidenen Morgenrock, leicht verschossen, sonst ohne Tadel. Ich hatte wieder das
Gefühl, mich weit in der Vergangenheit zu bewegen, wo die Gaslaternen noch
brannten und die Autos doppelt so hoch waren wie heute.
Ich erinnerte mich an seine Frage.
«Entschuldigen Sie vielmals», fing ich
an und kippte mit dem Oberkörper leicht vornüber wie Exzellenz im Ballsaal vor
der Gnädigsten, «ich störe Sie wahrscheinlich sehr— » noch bestritt er es
nicht— «aber ich sah unten das Schild— es handelt sich um Klavierunterricht—
kann ich erfahren— »
Er tat etwas Unerwartetes. Er öffnete
die Tür weiter, trat einen Schritt zurück und vollführte eine schwungvolle
Bewegung mit dem Morgenrockärmel.
«Treten Sie ein, mein Freund», sagte
er. «Treten Sie ein.»
«Sehr vielen Dank», murmelte ich und
schritt mit eingezogenem Kopf über die Schwelle. Was zum Teufel sollte werden,
wenn Alma gar nicht tot war? Ich sah mich schon am Klavier sitzen und
Kreuztonarten üben.
Schopenhauer schloß die Tür hinter mir.
Wir standen in einer mächtigen Diele. Das Licht fiel durch ein großes
Buntglasfenster in den Raum, wahrscheinlich von einem Lichthof her. Die
einzigen Möbel waren in der Mitte ein runder Tisch mit drei Armstühlen und ein
hoher, schwerer Schrank aus dem gleichen Holz an der linken Wand. Der Rest der
Wandfläche war fast vollständig bedeckt mit Gemälden unserer bewährten
Tonkünstler, die nun schon alle nichts mehr von ihren Tantiemen hatten.
Beethoven mit Halsbinde und grimmigem Blick, Schumann mit der glatten
Pagenfrisur, Mozart heiter und mit Perücke. Wagner trug das Samtbarett mit
Würde und sah gar nicht wie ein Sachse aus. Und dazwischen ich, der von Musik
keine Ahnung hatte, ausgenommen vielleicht von schnellen Liedern aus New
Orleans.
Mein Gastgeber trippelte nach rechts
hinüber und öffnete eine hohe knarrende Tür.
«Wenn Sie hier eintreten wollen, mein
Bester!»
Ich tat es und stand in einem
erstaunlichen Zimmer. An den Wänden türmte sich bis unter die Decke fast nur
Papier, unzählige Bücher und Broschüren in offenen Regalen und sagenhafter
Unordnung. Die beiden Fenster der Tür gegenüber hatten keine Vorhänge, aber
waren von außen von wirrem Weinlaub eingerahmt, das weit ins Zimmer hineinhing.
Zwischen den Fenstern stand ein gewaltiger Schreibtisch. Er hatte es auch
nötig, denn er war ungefähr mit einer Tonne an Papier und Büchern beladen. Zu
beiden Breitseiten stand je ein Ohrensessel, wie Zwillinge und mit abgewetztem,
brüchigem Leder überzogen. Auf einem der Bücherstapel thronte eine
Wasserpfeife. Ihre Schläuche hingen gleich Armen eines gläsernen Tintenfisches
über die Folianten herunter, und obendrin steckte eine halbe Zigarre, aus der
leichter Rauch emporkräuselte. Neben dem rechten Sessel reckte sich ein.
altertümliches Fernrohr auf einem gespreizten Stativ zum Fenster hinaus. Die
Tür, durch die ich gekommen war, wurde innen von zwei Marmorbüsten auf hohen
Sockeln bewacht. Die Gesichtszüge der Herren waren schwer auszumachen, und so
las ich mit zwei schnellen Seitenblicken die Inschriften unter den steinernen
Busen.
Immanuel Kant.
Arthur Schopenhauer. Aha.
Der alte Herr deutete auf den linken
Sessel.
«Dort ist ein Stuhl für Sie!»
Ich fand es an der Zeit, mich
vorzustellen, bevor ich zum Abendessen eingeladen wurde.
«Erlauben Sie, daß ich mich bekannt
mache», sagte ich artig. «Klein, Doktor Michael Klein. Ich bin Arzt— äh— hier
in der Stadt.»
«Ich habe es gerochen, mein Lieber»,
erwiderte der Alte mit faunischem Grinsen und sah
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