Fünf alte Damen
nahm einen Schluck und
fuhr fort:
«Ja, der Ulrich Leopold. Übrigens hat
er auch meine Schwester behandelt. Er hat sich alle Mühe gegeben, wirklich.
Leider vergeblich.»
Ich wurde wieder wach zwischen Wein und
Bücherstaub.
«Woran— ist Ihre Frau Schwester
gestorben, Herr Professor?»
Er hob die Hände zur Decke.
«An einer Lungenentzündung. Denken Sie,
an einer Lungenentzündung!»
Es klang, als hätte er sich für seine Familienmitglieder
originellere Todesursachen gewünscht. Auch ich war enttäuscht. Wieder so was
Normales.
«Aus heiterem Himmel! Niemals krank
gewesen— gewiß, es hat an kleinen Unpäßlichkeiten nicht gefehlt— aber so ein
rüstiges Mädel, von uns beiden weitaus die Gesündere, weitaus!»
Ein rüstiges Mädel. Einundsiebzig
Jahre. Ich räusperte mich verhalten.
«Sicher war Ihre Frau Schwester
bedeutend älter als— »
«Aber keineswegs, Verehrtester! Für wie
alt halten Sie mich?»
Ich erinnerte mich mühsam, daß der
echte Schopenhauer gerade zweiundsiebzig geschafft hatte. Bei dem Aussehen—
«Sechsundsechzig», sagte ich.
«Falsch», rief er, wie von einem Pult
herunter. «Siebenundsiebzig! Sehr zum Wohle, mein Bester!»
Ich trank und war platt. So munter
noch, der große Bruder, und schon zwölf Jahre pensioniert.
«Meine Hochachtung, Herr Professor»,
sagte ich. «Ich, an Stelle des Kultusministers, hätte Sie im Dienst belassen.»
«Nun, nun», sagte er und wiegte das
Denkerhaupt, «man ist auch so jung geblieben. Es ist der Geist, der sich den
Körper baut. Und geistige Arbeit erhält jung. Mens medicus noster.»
Der Geist unser Arzt. Ich überlegte,
wovon ich hätte leben sollen, wenn es überall so wäre. Wir tranken den letzten
Schluck auf die Wissenschaft. Dann erhob ich mich entschlossen.
«Herr Professor— es ist sehr nett bei
Ihnen. Leider habe ich noch ein paar Besuche zu machen. Erlauben Sie, daß ich
mich jetzt verabschiede. Ich habe Sie sowieso schon viel zu lange— »
«Davon kann gar keine Rede sein,
Doktor, überhaupt keine Rede. Ihr Besuch hat mich außerordentlich erfreut. Wenn
Sie wieder in dieser Gegend weilen, versäumen Sie nicht, mich abermals
aufzusuchen!»
«Sehr gern», sagte ich. Ich ging zur
Tür, und mir war wirklich so, als wäre ich in der großen Pause beim Rektor
gewesen und müßte nun zurück in mein Klassenzimmer. Ich warf einen Blick auf
Schopenhauer, den Weisen, und einen zweiten auf die stummen Musikgiganten an
den Wänden der Diele. An der Tür drückte ich die alte, faltige Hand des
Professors.
«Leben Sie wohl», rief er. Er hatte
wieder sein Faunlächeln im Gesicht und sah ungeheuer fröhlich aus damit. Ich
hatte plötzlich das verteufelte Gefühl, als hätte er meinen Schwindel mit dem
Klavierunterricht längst durchschaut und wüßte genau Bescheid über den wahren
Grund meines Auftritts. Warum hatte er mich bewirtet? Warum, zum Teufel, war er
so fröhlich, wo seine Schwester vor zwei Monaten gestorben war? Was wußte er
von dieser Geschichte mit den toten alten Damen?
«Gleichfalls, Herr Professor», sagte
ich. «Und nochmals vielen Dank.»
Die Tür schnappte ein. Dann verklangen
seine Schritte, leise und hurtig, als trippelte die Hexe in ihr Schlafzimmer
zurück.
Mein Wagen stand friedlich und stumm am
Straßenrand. Ich schloß auf, ließ mich auf den Sitz fallen und dachte nach.
Lungenentzündung. Nichts Besonderes im Frühjahr. Bei einundsiebzig Jahren schon
gar nicht. Genausowenig wie die beiden kranken Herzen. Da lebten Scharen von
Kriminalschriftstellern von immer neuen, sagenhaften Mordmethoden, und meine
alten Damen starben auf so durchschnittliche Arten, daß man gähnen konnte vor
Langeweile.
Ich wollte zum Anlasser greifen, als
mir ein neuer Gedanke kam.
Ulrich Leopold!
Der Musterschüler mit dem
ausgezeichneten Latein und den ungleichmäßigen Leistungen im Deutschen.
Und ganz in der Nähe.
Ich startete, rollte los, fand schnell
eine Telefonzelle. Das Telefonbuch sah aus wie ein Sammelband der Fliegenden
Blätter aus der Gründerzeit, hing aber trotzdem an einer gewichtigen Kette. Es
gab eine Menge Leopolds, aber ich fand den richtigen, weil er Ulrich hieß und
Doktor war und obendrein in der Mendelssohnstraße wohnte, also hier im
musikalischen Viertel. Ich entschloß mich, nicht vorher anzurufen. War er zu
Hause, konnte er mich schlecht abwimmeln, wenn ich einmal vor. seiner Schwelle
stand. Und Überraschung war vielleicht besser.
Nach kurzer Fahrerei hatte ich die
Straße gefunden und das
Weitere Kostenlose Bücher