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Fünf alte Damen

Fünf alte Damen

Titel: Fünf alte Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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sie in
einer Kapelle.
    Auf dem Nachttisch stand das Bild, das
ich kannte.
    Die fünf Mädchen. Ich erkannte Dorothea
an ihrem runden, treuherzigen Gesicht, das nicht ganz zwischen die anderen
paßte. Sie war sitzengeblieben. Ihr Leben lang war sie sitzengeblieben.
    Das Fenster war geschlossen. Sicher
hatte sie Angst vor dem Zug gehabt und vor einer neuen Erkältung.
    An die Glasscheiben preßten sich die
Weinranken. Das Fensterbrett war breit. In der linken Ecke stand ein Käfig aus
Messing.
    Ganz hinten, am äußersten Ende der
Stange, saß ein Wellensittich. Die Stäbe gruben Kerben in sein Gefieder, und
seine kleinen glänzenden Augen waren auf uns gerichtet, in namenloser Angst.
    Zum erstenmal sprach einer von uns.
Ich.
    «Der war die ganze Zeit hier.»
    «Ja.»
    «Wenn er nur den Schnabel aufmachen
könnte!»
    «Die reden doch— manchmal.»
    «Manchmal ja.»
    Eine Weile hörten wir nur unseren Atem
in der Stille. Dann fragte Mechthild: «Wer tut so etwas?»
    Ich ließ die Lehne des Stuhles los.
Langsam drehte ich mich, bis ich ihr voll ins Gesicht sehen konnte.
    «Jemand, der hinter den fünf Mädchen
auf dem Bild da her ist.»
    Sie konnte nicht mehr bleicher werden.
    «Hinter— aber— ?»
    «Sie kennen es doch», sagte ich
langsam. «Die fünf Schulfreundinnen. Jetzt ist noch eine übrig.»
    Verständnis kam in ihre Augen.
    «Ihre Tante war die letzte. Es kann
Zufall gewesen sein, wie bei den anderen. Aber das hier ist keiner. Dorothea
war gesund. Sie hätte noch zwanzig Jahre leben können. Das war zu lange.»
    Mechthild antwortete nicht. Ihre Lippen
begannen zu beben. Dann weinte sie wieder lautlos in ihr Taschentuch. Sie tat
mir leid. Es war nicht zu ändern.
    Ich stand auf, faßte sie um die
Schultern.
    «Gehen wir, Mechthild. Tun können wir
nichts mehr, und anfassen dürfen wir nichts.«
    Sie nickte stumm. Ich wollte die Tür
schließen.
    Da schrie der Wellensittich auf.
    Mechthild fuhr in meinem Arm zusammen.
    Wir sahen beide hinüber zu dem Käfig
hinter der Toten.
    «Was hat er gesagt?»
    «Ich weiß nicht», antwortete sie. «Es
klang wie ‹Irmchen›— oder ‹Minchen›— , ich hab’s nicht verstanden.»
    «Ich auch nicht. Aber so ähnlich war
es.»
    Ich zog die Tür ins Schloß. Mechthild
tupfte an ihren Augen herum und schnaubte Tränen ins Taschentuch. Ich wartete,
bis sie fertig war.
    «Wir müssen die Polizei holen», sagte
ich. «So schnell wie möglich. Können Sie das machen?»
    Sie nickte.
    «Ich möchte nicht gern hier weggehen.
Vielleicht kommt doch jemand und stöbert rum. Ein paar Ecken zurück war eine
Zelle. Gehen Sie hin und rufen an? Es ist besser, als das Haus
zusammenzutrommeln.»
    «Ja.»
    «Schön. Hier ist die Nummer. Das ist
mein Freund, der Kommissar von der Mordkommission. Vielleicht kommt er selber.»
    Ich riß den Zettel aus meinem
Notizbuch.
    «Und dann kommen Sie wieder her. Wir
müssen unsere Aussage machen.»
    Sie nickte wieder, mit furchtsamen
Augen.
    «Keine Angst. Rufen Sie ihn an. Sie
kennen ihn ja. Diesmal wird er auch nicht kichern.»
    Sie sah in den Spiegel der Garderobe
und fuhr durch ihr Haar. Dann ging sie schnell dem Ausgang zu. Sie machte die
Tür auf, wartete, drehte sich um. Ich winkte ihr zu.
    Sie sagte: «Wenn jemand kommt— seien
Sie vorsichtig. Bitte!»
    «Bin ich.»
    Ich stand noch, als sie fort war, und
freute mich und wußte nicht genau warum.
    Dann saß ich im Wohnzimmer auf einem
der Plüschsessel. Ich hörte das gleichmäßige Ticken der Standuhr und sah dem
schwingenden Perpendikel zu. Sie hätte jetzt stehenbleiben müssen, wie im
Märchen. Aber hier war kein Märchen. Hier war Mord.
    Ich dachte an den Wellensittich, der im
Schlafzimmer vor der Toten saß. Was hatte er gesehen und wen? Wann war es
passiert? Heute, gestern, in der Nacht? Wie war der Mörder hereingekommen?
Unwillkürlich sah ich mich um, nach dem Vorhang zum Nebenzimmer hin. Ganz leise
schwankte er hin und her, aber es war nichts, es war nur die Mailuft, die vom
Balkon her hereinstrich.
    Warum mußte ich in so eine Geschichte
geraten? Ich nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an. Sie schmeckte mir
nicht, aber ich hatte etwas zu tun mit meinen Händen.
    Acht Minuten waren vorbei, seitdem
Mechthild gegangen war. Da hörte ich Schritte auf der Treppe.
    Nicht ihre Schritte.
    Sie waren leicht, fast leichter als die
eines Mädchens, aber gleichmäßig, ohne Überschwang und Hast. Jemand, der Zeit
hatte und doch genau wußte, was er wollte.
    Für eine kurze Spanne meiner

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