Fünf alte Damen
gekommen
war.
Diesmal schlug mein Herz einen kurzen
Wirbel zum Hals hinauf. Ich ärgerte mich darüber. Die verdammte Wohnung fing
an, mir auf die Nerven zu gehen.
Bevor ich irgend etwas tun konnte,
schnarrte die Stimme des Rektors den Flur hinunter.
«Guten Tag, Agnes!»
Im gleichen Tempo, in dem er gekommen
war, schritt er zum Eingang zurück. Ich folgte ihm zögernd, bis auch ich
erkannte, wer da stand.
Agnes Lansome.
Die erste von den alten Damen, die ich
gesehen hatte. Und die letzte, die übrig war.
Sie machte genau den gleichen Eindruck
wie damals. Schwarzes Kleid mit kurzem leichtem Übermantel und Handschuhen,
alles in Schwarz. Über dem Marzipangesicht das weiße Haar sorgfältig
aufgesteckt und darauf ein ebenso schlichter wie teurer Hut, ganz anders als
der von der armen Dorothea. Eine Großfürstin, die eine Nebenlinie des
regierenden Hauses besucht.
Sie blickte uns an mit gezügelter
Verblüffung.
«Walter? Und Herr Doktor Klein? Wo ist
Dorothea?»
Der Rektor räusperte sich.
«Am besten, du kommst mit uns ins
Wohnzimmer, meine Liebe.»
Er nahm sie unter den Arm und führte
sie nach hinten. Ich folgte wie ein Lakai.
Im Wohnzimmer wies uns der Rektor die
Plätze an. Agnes setzte sich wie auf einen Thronsessel. Sie hatte ein Päckchen
bei sich und legte es auf den Tisch.
Mit allen unseren Geschenken war es
jetzt schon eine richtige Geburtstagstafel. Aber niemand war da, der sich
darüber freuen konnte.
Sie wiederholte ihre Frage.
«Wo ist Dorothea?»
Der Rektor legte den Hut auf seine Knie.
Dann verschränkte er beide Hände über der Krücke des Schirmes. Sein Haarkranz
zitterte sacht im Wind, der vom Balkon herkam.
«Sie liegt im Schlafzimmer, Agnes.»
Die alte Dame verstand nicht. Sie
blinzelte von einem zum anderen von uns.
«Im— ja, warum— ?»
«Du wirst ihr nicht mehr gratulieren
können.»
Seine Raubvogelaugen ließen nicht von
ihrem Gesicht während dieser Worte. Ich hatte den ganz flüchtigen Eindruck, es
brächte ihm geheimen Spaß, sie zu erschrecken.
Agnes faßte nach der Lehne ihres
Stuhles. Aber sie saß aufrecht.
«Was— was ist mit ihr?»
«Sie ist tot, Agnes. Man hat sie
umgebracht. Du brauchst nicht mehr hinzugehen.»
Ich bekam Mitleid mit ihr und Zorn auf
den Alten. Es sah aus, als wollte Agnes aufspringen. Ich legte meine Hand auf
ihren Arm.
«Es ist besser, Sie bleiben hier,
gnädige Frau. Sie können ihr nicht mehr helfen.»
«Nein», sagte der Rektor.
Es blieb ganz still. Agnes saß aufrecht
wie eine Statue, mit weißem Gesicht. Der Rektor hielt seinen Schirm wie ein
Schwert. Ich rührte mich nicht. Eine gespenstische Versammlung im Wohnzimmer
einer Toten.
Dann hörten wir fernen Lärm im
Treppenhaus. Auf den Stufen erklangen viele schwere Schritte, Fast war ich
froh, als sie auf dem Gang näher kamen.
Die Tür flog auf. Ich sah den
Indianerkopf von Daniel Nogees. Hinter ihm stand Mechthild.
Daniel vollführte eine knappe
Verbeugung.
«Kommissar Nogees. Tag, Michael.»
Ich stand auf.
«Daniel, das ist Doktor Wiebach. Frau
Lansome.»
Der Rektor zog seinen Blick
blitzschnell von Daniel zu mir. Dann erhob er sich mit Würde.
«Guten Tag, Herr Kommissar. Es freut
mich ungemein, Ihre Bekanntschaft zu machen.»
Daniel nickte stumm und musterte unsere
Mitbringsel auf dem Tisch.
«Gratulanten, wie?»
«So ist es.»
«Gut, meine Herrschaften. Bitte, warten
Sie hier auf mich. Wir haben zuerst draußen zu tun.»
Er ließ Mechthild an sich vorbei ins
Zimmer und schloß die Tür. Sie begrüßte Agnes und den Rektor. Dann setzte sie
sich auf einen Stuhl in einiger Entfernung vom Tisch. Auch der Alte und ich
setzten uns wieder. Niemand sprach. Alle lauschten wir den Geräuschen und den
gedämpften Stimmen, die von draußen hereindrangen. Jetzt waren sie bei der
Toten. Daniel sah, daß ich recht gehabt hatte, aber ich war nicht froh darüber.
Sicher hatte er Mechthild an der Zelle aufgegabelt. Und sie hatte ihm alles
erzählt. Was würde jetzt passieren? Was für Gedanken hatte der Alte in seinem
Schopenhauerschädel? Und wie war Agnes zumute, der letzten von fünfen?
Das Perpendikel der Standuhr bewegte
sich wie durch Leim. Unsäglich langsam krochen die Zeiger vorwärts. Ich dachte
an die Patienten, die ich noch besuchen sollte.
Eine knappe Viertelstunde saßen wir so.
Wie Zuschauer, die auf den Gong zum letzten Akt warten.
Dann kam Daniel wieder.
Nichts von der gewohnten Albernheit war
in seinem Gesicht. Ich hatte ihn schon erlebt, wenn er auf
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