Fünf Kopeken
Parkverbotsschilder, nur tagsüber, nur Frauen, direkt vor ihr: Nur Kunden, widerrechtlich abgestellte Fahrzeuge werden kostenpflichtig abgeschleppt. Hier und da war ein Haus wie ein Kind in seinem Laufstall von einem Gerüst eingezäunt, aber inmitten des Drecksgraubrauns stach der Laden noch immer heraus, als sei man mit dem Lappen einmal schnell über eine staubige Tischplatte gefahren. Sie blickte die renovierte Fassade hinauf, sah plötzlich den Nachbarsjungen am Fenster im ersten Stock, die Gardine wie einen Schleier auf dem blonden Haar. Sein Finger steckte bis zum Anschlag in der Nase. Sie sah, wie sich die Kuppe durch die Haut bog, hin und her kreiste, schließlich wieder hervorkam und stattdessen in seinem Mund verschwand. Eine an die Wand gelehnte Mülltüte raschelte im Wind.
Sie drehte sich um und lief zurück in den Laden.
»Zu spät«, sagte sie zu den Verkäuferinnen, die noch immer an der Kasse standen.
»Vielleicht kommt sie ja wieder«, sagte eine hoffnungsvoll.
»Wegen so nem Haarding?«, sagte Frau Jablonsky, »Quatsch, dafür würd nicht mal ich zurücklaufen.«
Meine Mutter legte die Spange, an der noch ein paar schwarze Strähnen hingen, auf die Kasse.
»In echt ist die noch hübscher, was?«, sagte eine der Verkäuferinnen.
»Das ist der Schmerz, der lässt die Augen glänzen«, antwortete Frau Jablonsky, »das ist so mies, wie der die sitzen gelassen hat. Ich könnte echt selbst losheulen.«
Mein Großvater zog die Brauen nach oben. »Labor omnia vincit«, sagte er trocken.
Die Verkäuferinnen sahen ihn verständnislos an.
»Mein Gott, die Menschen werden wirklich immer dümmer«, murmelte er und fuhr sich übers Gesicht. An seinem Kragen hing etwas Blätterteig. »Arbeiten sollen Sie! Wir haben auch noch andere Kunden.«
Die Verkäuferinnen wechselten einen Blick.
Mein Großvater klappte die Hand nach vorne und ließ die Fingerspitzen schnell nach oben schnalzen. »Kschksch«, machte er.
»Also!«, rief eine.
»Kschksch«, machte er noch mal, wie zu einer Katze, die einem an den Schuhspitzen nagt. Er drehte den dreien den Rücken zu und schaute stoisch geradeaus, bis sie endlich davonliefen, »natürlich nicht, um endlich mal was zu schaffen, sondern um sich in der Teeküche weiter das Maul zu zerreißen. Glaub nicht, dass ich das nicht weiß!« Er drehte sich zu meiner Mutter. »Die sollten uns einen Orden verleihen, dass wir sie nicht einfach sich selbst überlassen«, sagte er und blähte die Brust, als wolle er sich selbigen gleich anstecken lassen. Er ließ sich die Krümel vom Jackett pieken. »Manchmal bekommt man den Eindruck, die hätten nicht hinter der Mauer, sondern hinterm Mond gelebt.«
Mein Großvater trat einen Schritt zurück und zupfte die Manschetten unter dem Ärmel hervor. »Komm noch mal zu mir ins Büro, bevor du gehst«, sagte er dann.
Meine Mutter schaute auf. »Was gibt’s denn?«, fragte sie.
Er ließ die Arme hängen. Sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. »Lass uns da später drüber reden«, sagte er. Von draußen zog feuchtkalte Luft herein. Seine Mundwinkel sprangen nach oben. Den rechten Arm schon mal vorausgereckt, lief er zum Eingang. »Schneider, wie der Name an der Tür«, bellte er und ließ meine Mutter allein an der Kasse stehen. Sie sah ihm nach, wie er vor einem Pärchen herlief, an deren Jeansbeinen sich die Nässe schwarzblau nach oben zog, wie er über einen seiner eigenen Witze lachte. Wie die Frau nickte.
Meine Mutter ging um die Kasse herum, öffnete die Faust und ließ die Blätterteigreste in den Papierkorb fallen. Mit der anderen kratze sie den warmgewordenen Matsch von der Handfläche, während ihr Magen sich zusammenzog, »weil ich natürlich dachte, ich hätte was falsch gemacht!«
»Warum denn natürlich ?«, fragte ich.
Sie runzelte die Stirn. »Weil ich wusste, dass ich nichts besonders richtig gemacht hab«, sagte sie. Ihr Haar lag auf dem Kissen ausgebreitet wie Spinnweben. »Drei Stunden hat er mich zappeln lassen, bis der letzte Kunde endlich raus war. Aber damit war noch immer nicht gut. Ab ins Auto, durch die halbe Stadt, ohne ein Wort. Erst als wir in Zehlendorf rausgefahren sind, hat er mit der Sprache rausgerückt. Dass er ein Grundstück gekauft habe, um eine zweite Filiale in Berlin aufzumachen. Einfach so. Gefragt hat er natürlich keinen von uns, aber toll finden, das sollten wir’s!« Sie versuchte, sich auf den Ellenbogen zu stützen. Die Schulter stach aus der dünnen Haut wie ein
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