Fuer den Rest des Lebens
bestimmt kennen Sie die Worte das Heiligen Augustinus, was tat Gott, bevor er den Himmel und die Erde erschuf? Er schuf die Hölle für Menschen, die mit ihrer Forschung zu weit gehen, und er beeilt sich zu nicken und lacht sogar laut, damit sie weiß, dass jemand ihr zuhört und ihre Worte sich nicht in der Luft auflösen, er ist es auch, der heftig klatscht, als sie die Bühne verlässt, mit einer lauten Begeisterung, die nicht zum Charakter der Feier passt, bis ihn stumme Blicke der Umsitzenden treffen und er entschuldigend lächelt. Ein spannender Vortrag, murmelt er, wer ist die Vortragende? Und die junge Frau, die neben ihm sitzt, hält ihm ein Programm hin, das ihn vom Design her an die Einladung zu Anatis Hochzeit erinnert, und er liest »Die Erinnerungen des Universums und des Daseins von Professor Rafael Alon«, der Name der ersten Vortragenden des Abends ist Dr. Talia Franko, und nun tritt der folgende Redner auf die Bühne, genau wie es im Programm steht, während Talia Franko die seitliehe Treppe herabkommt und sich, nachdem sie der Ehefrau Elischewa und den Kindern Ja’ara und Avschalom die Hand gedrückt hat, an den Rand der ersten Reihe setzt.
Der nächste Redner, ein großgewachsener, schwerer Mann mit Glatze, erhebt die Stimme, es ist leichter, Bilder zu bewahren als Gedanken oder Worte, sagt er, deshalb bauen wir in unserem Gehirn Erinnerungsburgen, und dann wandern wir durch die selbst erschaffenen Räume, und Avner stellt fest, dass er interessiert zuhört, obwohl sein Blick am zweiten Platz links in der ersten Reihe hängt. Die meiste Zeit wird sie von Händen, Hälsen und Rücken verdeckt, aber manchmal ist die Fülle ihrer schwarzen Haare zu sehen, die inzwischen länger geworden sind, oder ihr edles Profil, sie ist dünner und dunkler, als er sie in Erinnerung hat, sodass Zweifel in ihm aufsteigen, ob sie es wirklich ist, aber als er sieht, wie sie sich vorbeugt und sich mit einem Zipfel ihrer Bluse über die Augen wischt, mit einer Bewegung, die sich in sein Gedächtnis gegraben hat, weiß er nicht nur, dass sie es ist, sondern auch, warum er sie in all den Tagen und Wochen gesucht hat, als hinge sein Leben davon ab. Er steht auf und bahnt sich einen Weg durch die Sitzreihen, eilt zu einem freien Platz, den er wenige Reihen hinter ihr erspäht hat, entschlossen, ihr so nah wie möglich zu kommen, damit er sie am Ende des Abends nicht aus den Augen verlieren würde. Erst würden Menschen sie umringen und sie zu ihrer Rede beglückwünschen, dann wäre sie plötzlich verschwunden, ohne zu wissen, dass ein Tröster auf sie wartet, und er setzt sich auf seinen neuen Platz, und trotz der Unbequemlichkeit, die er vielen durch seinen Platzwechsel bereitet hat, hat er das Gefühl, willkommen zu sein, schließlich sind die Teilnehmer bei Veranstaltungen solcher Art nicht ungeduldig, sondern vielmehr entgegenkommend. Alle sind erschienen, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen, alle klammern sich an ihr Leben und widersprüchlicherweise auch aneinander, wie Passagiere in einem schwankenden Flugzeug Ermutigung durch die Fremden suchen, die in ihrer Nähe sitzen, denkt er erstaunt, irgendwie scheinen wir zu glauben, dass die Fremden beschützt sind, während wir und unsere Liebsten irgendwelchen Gefahren ausgesetzt sind, wir glauben, dass sie uns allein durch ihre Anwesenheit retten.
Von seinem neuen, besseren Platz aus kann er das Foto des Verstorbenen genau sehen, er kann in die schmalen, grauen, von sympathischen Lachfältchen umgebenen Augen schauen. Sein Gesicht ist voller, als es am Morgen ihres Zusammentreffens gewesen ist, aber es sieht ebenso jungenhaft und angenehm aus wie in seiner Erinnerung, und Avner merkt, wie er das freundliche Lächeln des Toten sehnsüchtig erwidert, er lächelt den Freund an, den er nicht gehabt hat, denn eigentlich hat er noch nie einen richtigen Freund gehabt. Immer stand eine Wand der Einsamkeit zwischen ihm und seinen Geschlechtsgenossen, die Jungen im Kibbuz haben ihn geärgert, die weltmännischen Jungen in der neuen Stadt haben sich von ihm distanziert, von diesem fremden, verträumten Immigranten aus dem Norden, er war nicht mit ihnen aufgewachsen und war anders als sie. Auch in den wenigen Wochen seines Dienstes in der Kampfeinheit hatte er es nicht geschafft, jene berühmte Kameradschaft zu genießen, nur während des Jurastudiums fand er einige Kommilitonen, in deren Gesellschaft er sich wohl fühlte, vor allem wenn sie einen gemeinsamen Auftrag
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