Fuer den Rest des Lebens
einen Moment die Dunkelheit erhellen, damit wird sie sich zufriedengeben müssen, das wird sie vielleicht zur Vernunft bringen, und sie schaut hinüber zu der geschlossenen Schiebetür vor dem Balkon, zum gelben Himmel dahinter, was würde sie nicht alles für ein Zeichen geben, für den Hauch eines Zeichens, um ihr den richtigen Weg zu zeigen.
Wenn sie sich nur an einen Rabbiner wenden könnte, an einen Guru, an irgendwelche Geisterbeschwörerinnen, aber sie ist immer eine Zweiflerin gewesen, sie sucht ein privates Zeichen, eines, das sich nur ihr zeigt, ohne Vermittler, und sie verlässt das Bett und setzt sich an den Computer. Nein, sie wird sich jetzt nicht in die tröstlichen Geschichten ihrer neuen, armseligen Freunde vertiefen, das wird sie nie wieder tun, sie wird sich nicht mehr unter sie mischen, sie ist nicht so mutig wie sie und vielleicht auch nicht so verzweifelt. Sie hat etwas zu verlieren, und deshalb wird sie jetzt zu den bedauernswerten Gemeinden in Spanien gehen, die vor der Vernichtung standen, Valencia, Cordoba, Toledo, Sevilla, euer Ende naht, denn auch wenn es eigentlich nicht die Juden selbst waren, die Don Fernando und Dona Isabella aus der spanischen Erde ausreißen wollten, sondern das Judentum, so hatten sie offenbar nicht verstanden, wie sehr die Juden vom Judentum durchdrungen waren, bis in ihr tiefstes Inneres, und deshalb kann man sagen, dass die Vertreibung nicht nur ihr eigentliches Ziel nicht erreicht hatte, den Übertritt der Juden zum Christentum, sondern im Gegenteil zu einem geheimen Fortbestand des Judentums geführt hatte, was nach Ansicht der herrschenden Gesellschaft noch viel gefährlicher war, liest sie in der Einführung ihrer Dissertation, die sich mit den Wurzeln des seltsamen Phänomens eines Judentums ohne Juden beschäftigt, und in diese Dissertation will sie sich nun wieder vertiefen, nicht in eine Mutterschaft ohne Kinder, und wieder empfindet sie das Staunen, das sie seit Jahren begleitet, warum habt ihr euch nicht assimiliert? Warum habt ihr nicht in euren Häusern und in euren Städten bleiben wollen, statt schwankende Schiffe zu besteigen, um in fremde Länder zu fahren und eure Lieben zu gefährden?
Kann man heutzutage solch eine Entscheidung überhaupt begreifen?, fragt sie, liest weiter das erste Kapitel ihrer Dissertation, das sie schon vor Jahren geschrieben und auch vor Jahren veröffentlicht hatte, den Artikel über die schreckliche Ritualmordanklage, die nach dem Heiligen Kind von La Guardia benannt ist, diesen angeblichen Meuchelmord, den man den Juden anhängte, obwohl es das Kind nie gegeben hatte, doch da vibriert ihr Handy, das auf dem Tisch liegt, und sie hört die Stimme ihres Bruders, hi, ich bin bei Mutter, du solltest herkommen, und wieder packt sie die Angst, ihre Mutter könnte sterben, was ist mit ihr, fragt sie, und er sagt, nichts, ihr geht es sogar ganz gut, frag jetzt nicht, komm einfach.
Ich habe mich gerade hingesetzt, um an meiner Dissertation zu arbeiten, sagt sie, aber da hat sie die Tasche schon in der Hand, natürlich wird sie hinfahren, und zum ersten Mal seit Jahren klingt ihr seine Stimme ruhig und tröstlich in den Ohren, ihr kleiner Bruder, ihr erstes Baby. Sie hat ihn so sehr geliebt, und auch er ist ihr weggenommen worden, sie wollte ihn an ihr Herz drücken, an ihre Haut, aber ihre Mutter hatte ihn von ihr ferngehalten. Vielleicht hatte sie Angst, sie würde ihn verletzen, und vielleicht wollte sie ihn auch für sich allein, und nicht nur sie, ihr scheint es, als hätte sich die ganze Gesellschaft verbündet, um sie beide zu trennen, und sogar er selbst, ihr hübsches Baby, hatte leichten Herzens auf sie verzichtet, ohne zu protestieren.
Ich komme, kleiner Bruder, sagt sie, aufgeregt steht sie vor dem Spiegel, betont ihre Augen mit einem schwarzen Lidstrich und ihre Lippen mit rotem, glitzerndem Gloss, ruh dich aus, sagt sie zu dem schlafenden Menschenbündel auf dem Bett, vielleicht komme ich nicht mehr zurück, denn sie hat das Gefühl, ihr Bruder erwarte sie mit einer guten Nachricht. Wer weiß, vielleicht können sie ihre alte, nie wirklich reif gewordene Familie zu neuem Leben erwecken, vielleicht wird sie dort, bei ihm und ihrer Mutter, in der kleinen Wohnung, in der es mittags glühend heiß wird, Erlösung finden.
Überrascht bleibt sie in der Tür stehen, als Nizan ihr aufmacht, gekleidet in eine Tunika ihrer Großmutter, die ihr bis zu den Knöcheln hängt, mit wirren Haaren und einem Lächeln auf den
Weitere Kostenlose Bücher