Fuer den Rest des Lebens
Behandlung hinter mir, sagt sie, mein Sohn war zwölf und ich wollte unbedingt noch ein Kind, ich konnte nicht akzeptieren, dass es nicht mehr ging, dass ich kein Kind mehr bekommen konnte. Mein Mann wollte auch noch ein Kind, aber er war gegen eine Adoption, keine Katze im Sack. Was für Kämpfe hatte ich mit ihm durchzustehen, es hat mich viel Zeit gekostet, ihn von einer Adoption zu überzeugen. Die ganze Prozedur hat ewig gedauert, bis man uns das Mädchen anbot, all die Reisen, die Untersuchungen, das Gericht, man braucht sehr starke Nerven, doch die größten Schwierigkeiten fangen erst an, wenn du die Bürokratie hinter dir hast, wenn endlich alle Fremden aus deinem Leben verschwinden und du mit dem Mädchen dastehst, zu dessen Mutter dich ein Richter und ein Gericht in einem fremden Land gemacht haben.
Was ist passiert?, fragt Dina, da ist wieder der Schmerz unter ihren Rippen, der es ihr schwer macht, der ausführlichen Antwort zu lauschen. Ich habe ein zweijähriges Mädchen bekommen, untergewichtig, kahl, blass, verschreckt, erzählt sie, im Kinderheim war sie so etwas wie ein dressiertes Püppchen, ich hatte Angst, sie wäre zu apathisch, aber in dem Moment, als wir sie von dort abgeholt hatten, veränderte sie sich völlig. Sie wurde wild, tobte die ganze Zeit herum, und wenn ich sie in den Arm nehmen wollte, lief sie davon. Mein Mann, der von Anfang an diesem Schritt distanziert gegenübergestanden hatte, hörte nicht auf, mir Vorwürfe zu machen, ich habe es dir ja gesagt, und irgendetwas stimmt mit ihr nicht. Nachts wachte sie mit Alpträumen auf und es war unmöglich, sie zu beruhigen, wenn ich mich ihr näherte, brüllte sie und trat um sich. Ich hatte das Gefühl, Teil ihres Alptraums zu sein, und dass auch unser Leben zu einem Alptraum wurde, die Sache war, dass es keine Abstufungen gab. Es ist nicht wie bei einem Kind, das du bekommst und mit dem du langsam eine Beziehung aufbaust, bei dem alle Schwierigkeiten schon vor einem Hintergrund von Vertrautheit und Liebe passieren. Hier war es vollkommene Fremdheit, bei allem guten Willen, das war ein fremdes Mädchen und es gab noch nicht genügend Vertrauen und Sicherheit, sich mit allem ruhig auseinanderzusetzen, das war natürlich gegenseitig, auch sie empfand uns gegenüber weder Vertrauen noch Sicherheit. Man braucht viel Geduld, diese Kinder sind wie Gefangene, die man aus dem Gefängnis freigelassen hat. Man darf sie nicht mit Liebe überschütten. Auch Liebe ist eine Last. Man darf ihnen keine Hoffnungen aufladen. Man muss vorsichtig und beherrscht mit ihnen umgehen und ihnen Zeit lassen, sich einzugewöhnen.
Wie lange es gedauert hat?, wiederholt sie die Frage, die Dina gestellt hat, und zieht einen breiten Wollschal über ihre Schultern, es ist plötzlich kalt geworden, sagt sie, der Winter kommt sehr früh in diesem Jahr. Wie lange? Nun, es ist noch nicht zu Ende, weißt du, es ist ein unaufhörlicher Kampf. Aber im ersten Jahr war es am schwersten. Es war ja auch ein schwieriges Alter, und sie war neugierig, alles war ihr neu. Sie ist im Haus herumgelaufen und hat auf alle nur möglichen Knöpfe gedrückt, am Computer, am Fernseher, am Radio, an der Spülmaschine. Sie hat Essen auf den Boden geworfen, Türen zugeknallt. Ich musste die ganze Zeit nein sagen. Sobald sie aufwachte, hat sie ihre Grenzen ausgelotet. Es war so anders, als ich es mir vorgestellt hatte, statt sie zu umarmen und zu küssen, ihr vorzulesen oder mit ihr mit Bausteinen zu spielen, musste ich ihr im ganzen Haus hinterherrennen und nein sagen, und dabei hat sie sowieso nicht auf mich gehört. Auf einmal verstehst du diese Begriffe, die Grenzen ausloten, Deprivationssyndrom. Du entdeckst, dass ein Kind, das an einem Mangel an Liebe leidet, nicht unbedingt ein Kind ist, das die Liebe annimmt, die du ihm zu geben bereit bist, im Gegenteil, es ist nicht an Liebe gewöhnt, es fühlt sich von ihr bedroht. Es hat Monate gedauert, bis sie sich beruhigt hat, bis sie überhaupt bereit war, auf meinem Schoß zu sitzen und eine Geschichte anzuhören. Und das waren noch die geringeren Probleme. Anfangs war ich sicher, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung ist, und es hat mich verrückt gemacht, dass ich nichts über ihre Gene wusste. Sie hat mit dem Kopf an den Bettrand gehauen, sie hat sich selbst geschlagen, sie hat die Spielsachen geschlagen, sie hat uns die ganze Zeit gebissen. Mein Sohn sagte immer, da wäre ein Hund wirklich besser gewesen, warum hast du nicht lieber einen Hund
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