Fuer den Rest des Lebens
demonstrativer Gleichgültigkeit weitergibt, aber der Arzt möchte ausgerechnet das wissen, was heute Morgen passiert ist, er will nicht, dass man ihm auch nur eine Sekunde des geheimnisvollen Verlaufs vorenthält, wie viel Zeit ist zwischen ihrem Anruf bis zum Eintreffen des Krankenwagens vergangen, fragt er, versucht herauszufinden, inwieweit die Blutversorgung des Gehirns gestört war, deshalb ist die alte Frau schließlich von verschiedenen seltsamen Geräten umgeben, die mehr über sie aussagen, als sie selbst es je könnte, aber das kann die älteste Tochter nicht beantworten, und der Sohn, der es weiß, hört schweigend zu, verborgen hinter dem Vorhang. Ist es nicht schon immer so gewesen, fragt er sich erstaunt, sie halten sich am gleichen Ort auf, aber in völlig verschiedenen Realitäten: Dina, die ernste, verantwortungsbewusste Tochter, die versucht, nützlich zu sein, es aber nicht hinkriegt, während er sich in den Momenten, in denen er allein durch seine Anwesenheit Erleichterung bringen könnte, fast gegen seinen Willen entzieht, versteckt.
Es hat eine halbe Stunde gedauert, möchte er sagen, eine kostbare halbe Stunde, aber ihr Leben ist sowieso angefüllt mit Stunden, mit halben Stunden, Viertelstunden, und niemand kann das Wesen der Dinge entziffern, niemand kann entschlüsseln, wieso solchen vorkämpferischen Eltern mitten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine derart verträumte, sonderbare Tochter geboren wurde, die sich nicht an das Leben im Kibbuz anpassen konnte, obwohl sie in ihm geboren und aufgewachsen war, niemand kann wissen, warum sie Dinas und seinen Vater geheiratet hatte, diesen fremden, einzelgängerischen jungen Mann, dessen Liebe zu Hass und dessen Abhängigkeit zu Groll wurde, und warum es ausgerechnet ihr auferlegt war, in ihrem langen Leben zu zeigen, wie sinnlos diese Existenz war, denn es schien, als habe sie darüber hinaus nichts erreichen können, als habe sie nur das Negative erlebt, eine Frau, die ihren Mann nicht liebte, eine Lehrerin, die das Unterrichten nicht liebte, eine Mutter, der es nicht gelang, ihre Kinder zu erziehen, eine Frau, die voller Geschichten steckte, sie aber nicht aufschreiben konnte.
Jahrelang hatte es so ausgesehen, als sei der Kibbuz an allem schuld, als müsse sie ihn nur verlassen, damit ihr wirkliches Leben anfing, aber auch als es ihr schließlich gelang, sich loszureißen und mit ihrer Familie in eine kleine Siedlung am Rand der Hauptstadt zu ziehen, kostete diese Aktion ihre ganze Kraft und sie schaffte es nicht, neu geboren zu werden, es war der Tod, der sie dort erwartete, nicht das Leben, denn ihr Mann hielt alldem nicht stand, nach wenigen Jahren wurde er krank und starb, und nun erinnert er sich an die schreckliche Angst, die er in jenem Sommer empfunden hatte, als sie zu dritt in der glühend heißen Wohnung zurückgeblieben waren und ihm klar wurde, dass es zu spät war.
Deinetwegen ist es mir nicht gelungen, ihn kennenzulernen, deine Abneigung gegen ihn hat sich auf mich übertragen, wie schwer fiel es ihm, zu akzeptieren, dass er seinen Vater nicht besser gekannt hatte, aber hatten die zig Jahre, die seine Mutter den Vater überlebte, geholfen, das Mutter und Sohn tieferes Verständnis füreinander entwickeln konnten? Hat er je versucht, sie zu verstehen, und hat er überhaupt ein Interesse daran, nun, da seine Schwester das Rollbett energisch zum Untersuchungsraum schiebt? Heimlich steht er vom Bett auf, wie ein Kranker, dem hinter dem Vorhang das Wunder der Genesung zuteilwurde, ohne die Einmischung der Ärzte, und folgt ihnen mit sicherem Abstand. Würde sie ihn bemerken, würde er so tun, als suche er sie, dem bedrückenden Gespräch, das folgen würde, konnte er nicht entkommen, ihm bleibt nur, seine Hingabe zu beweisen, schließlich ist er da, bereit, beizuspringen falls nötig, wie ein Mann, der von weitem seine Familie beobachtet, und inzwischen beobachtet er andere Familien, nein, keine Familien, Paare, ein Paar, genauer gesagt, das er angespannt verfolgt, bis er die Gestalt seiner Schwester fast aus den Augen verliert, er registriert jedes Aufblitzen eines Stoffs, aber es ist nicht die Frau in der roten Bluse, die er sehen möchte, sondern der Mann an ihrer Seite, er möchte seine Stimme hören, ein zufälliges Gespräch mit ihm beginnen, denn an Orten wie diesem entsteht schnell eine unerwartete Nähe, die er in der kurzen Zeit ihrer Nachbarschaft verpasst hat.
Während er sich dem Ausgang nähert,
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