Fuer den Rest des Lebens
die Augen und den schmalen Nasenrücken, ein Überbleibsel aus der Zeit, als ihre Mutter größer war als sie, eine Erinnerung an ihre unterschiedliche Größe und ihre unterschiedliche Stellung innerhalb der Familie, letztlich war es für keinen von ihnen bequem, und trotzdem waren sie nicht auf die Idee gekommen, einen großen Spiegel zu kaufen, damit sie alle vier ihr Gesicht sehen konnten.
Sie hat violette Ringe um die Augen und ihre Haare sind trocken und wirr, und als sie sich streckt und ihre eingefallenen Wangen sieht, fährt sie sich mit der Zunge über die Lippen, ob schon Spuren dünner Falten zu sehen sind, schon immer war dieser Spiegel streng mit ihnen, als würde er die Zukunft voraussagen und wäre seiner Zeit voraus, nun bleibt sie vor ihm stehen, spritzt sich wieder und wieder kaltes Wasser ins Gesicht, als besäße es die Macht, ihre Haut zu glätten. Schon seit Jahren hatte sie ihr Gesicht nicht mit solcher schmerzhaften Sorgfalt betrachtet, schau dich doch an, wirst du etwa einen Kinderwagen durch die Straßen schieben? Mit dieser Falte zwischen den Brauen und diesen müden Augen? Das ist nichts für dich, das ist etwas für deine Studentinnen mit ihrer strahlenden Haut und den Augen, die sogar strahlen, wenn sie müde sind, dein Blick ist verhangen, auch wenn du ausgeschlafen bist, und sie hält ihren Kopf unter den Wasserhahn, macht ihre Haare nass, putzt sich die Zähne mit dem Finger, gib dich zufrieden mit dem, was du hast, und sag danke dafür, Gideon hatte recht, was für eine Anmaßung, was für ein Irrsinn. Macht dich ein kleines Kind etwa jünger? Im Gegenteil, es wird dein Alter nur betonen. Wird es dich ruhiger machen? Im Gegenteil, es wird deine Ängste nur steigern, und es ist dem kleinen Kind gegenüber nicht fair, so alte Eltern zu bekommen, die es vielleicht nicht mehr schaffen, es aufzuziehen, ganz zu schweigen von den Problemen, die dich erwarten, wenn das Kind körperlich oder geistig behindert ist, hältst du so etwas durch? Weißt du, wie viel Kraft man dafür braucht?
Aus den Haaren tropft Wasser auf ihre Schultern, sie steckt die Hände ins Waschbecken und kämpft gegen eine neue Welle der Übelkeit, und als ihr eine weißliche, säuerliche Flüssigkeit in der Kehle aufsteigt, kauert sie sich vor die Kloschüssel, sie steckt den Finger in den Mund, genau wie damals, vor fast dreißig Jahren, als ihr ihr jugendliches Gesicht aus dem Wasser zwischen der hässlichen Porzellanumrandung entgegenblickte, und die verschiedensten und seltsamsten Gerichte machten ihren Weg durch ihren Hals in den Hals der Kloschüssel, aus ihrem gequälten Magen in den Magen der Toilette.
In jenen Tagen gab es noch keinen Namen für solche Phänomene, man redete nicht darüber, deshalb kam sie gar nicht auf die Idee, dass sie Genossinnen haben könnte, dass es überhaupt noch ein anderes Mädchen auf der weiten Welt gab, das sich nach fast jeder Mahlzeit vor die Kloschüssel kauerte, vor allem wenn sie beim Essen übertrieben hatte, und die kleinste Ausnahme war in ihren Augen bereits eine Übertreibung, ganz zu schweigen von den wilden Mahlzeiten, die von vornherein dazu bestimmt waren, hier zu landen, frisches Brot mit Schokoaufstrich, Eis und Halva und Kuchen, all das, an was ein junges Mädchen, dessen Schenkel dick und dessen Bauch rund wurde, noch nicht einmal denken durfte, alle üppigen Mahlzeiten, die sie nur in sich hineinstopfen durfte, wenn niemand zu Hause war, mit klopfendem Herzen, mit angespanntem Blick aus dem Fenster auf die Straße, damit niemand sie erwischen würde, und gleich danach ließ sie sich auf die Knie sinken, die schon wehtaten, und steckte den Finger in den Hals, und schon brach es in einem schleimigen Schwall aus ihr heraus, hinterließ einen säuerlichen Geschmack in der Mundhöhle und auf dem Finger, und sie hielt den Kopf unter den Wasserhahn, schrubbte sich mit Seife die Hände und die Lippen, schob sogar ein bisschen Seife in den Mund, bespritzte sich mit dem scharfen Rasierwasser ihres Vaters, denn ihre Mutter besaß damals nicht das kleinste Parfümfläschchen. Aber manchmal klappte es einfach nicht, manchmal klammerte sich der Nahrungsbrei an ihren Magen und weigerte sich, durch die Speiseröhre aufzusteigen, dann tobte der Finger im Hals, verletzte das zarte Zäpfchen und nichts kam heraus, nur Spucke und Blut, während bereits irgendein Familienmitglied vor der Tür stand und sie drängte, los, Dina, komm schon raus, du kannst nicht immer die Toilette
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