Fuer den Rest des Lebens
vorenthalten hatte.
Achtes Kapitel
Am Morgen dringen die Sonnstrahlen mit besonders grausamer List in das Zimmer, das früher ihres war, und es ist, als wären keine dreißig Jahre vergangen, als wäre sie noch jung und hätte das ganze Leben vor sich, um Zeit und Chancen zu vergeuden. Wie hatte sie das Aufwachen hier gehasst, die ersten Sonnenstrahlen, die ihr in den Augen wehtaten, kleine Messer aus Licht, die ihren Schlaf in dünne Scheiben schnitten, bis sie gezwungen war, die Augen zu öffnen. Wie viel Uhr ist es? Sie fährt erschrocken hoch, ich komme zu spät zur Schule, warum habt ihr mich nicht geweckt? Sie erwartet, gleich ihren Vater zu treffen, der vor dem kleinen Badezimmerspiegel steht und sich die feinen Bartstoppeln abrasiert, und ihre Mutter, die in der Küche das schmutzige Geschirr vom Vortag spült, aber sie beeilt sich nicht, das Bett zu verlassen, ihre Gliedmaßen sind ineinander verflochten, sie kann die Knoten nicht lösen, ihr Nacken steckt gefangen zwischen ihren Schultern und in ihrer Kehle steigt Übelkeit auf, und als sie versucht, den Kopf im Scharnier ihres Halses zu bewegen, bemerkt sie den Körper neben sich, die alte Frau, die bewegungslos mit offenem Mund auf dem Rücken liegt, wie eine Mumie, die Haut überzogen mit einer Art dunklem, schönem Wachs, wie bist du hierhergekommen und seit wann bist du hier, ein Mädchen, das sich in der Nacht erschrocken ins Bett der Eltern geschlichen hat, aber dein Vater ist schon lange tot und deine Mutter ist alt geworden und du selbst bist dabei, eine alte Frau zu werden.
Du hast auf dem Balkon gesessen und den Wein getrunken, der vom Abendessen übrig war, die Flasche, voller als du erwartet hast, wurde immer leerer, du hast auf Gideon gewartet und vielleicht bist du auf dem Balkon eingeschlafen, aber wie bist du hierhergefahren, und wie lange bist du schon hier und wieso hat dich niemand gesucht, als hättest du nie eine Familie gehabt, du bist sogar noch verlassener als deine Mutter, und als sie nun wieder den Kopf zu ihr dreht, erschrickt sie, kein Lufthauch kommt aus ihrem Mund, kein Lufthauch wird eingeatmet, keine Bewegung lässt ihren Körper erzittern. Sie ist tot, ich habe sie unabsichtlich im Schlaf erstickt, wie eine unerfahrene Mutter ihr neugeborenes Baby, oder vielleicht habe ich sie absichtlich umgebracht, habe ihr das Kissen aufs Gesicht gedrückt, um mich an ihr zu rächen, an Gideon, an Nizan, an Avner, und sie hat es mir leicht gemacht und noch nicht einmal gezappelt. Wenn ich mich nicht mehr erinnere, wie ich hierhergefahren bin, wer kann dann wissen, was ich noch getan habe, sie spürt, wie ihr Herz zwischen ihren Rippen herumwandert, gleich wird es zerplatzen und aufhören zu schlagen, und so wird man sie schließlich beide leblos in einem Bett vorfinden, Mutter und Tochter, die keinen Moment der Gnade erleben durften, und sie versucht, ihren Atem zu kontrollieren, streckt einen zitternden Finger zum Arm ihrer Mutter aus. Du lebst, du lebst, fleht sie, wundert sich, wie schwer es einem unerfahrenen Menschen wie ihr fällt, zwischen Leben und Tod zu unterscheiden, denn plötzlich hört sie ein leichtes Pusten aus den Nasenlöchern ihrer Mutter entweichen, und als sie sich an sie drückt, hebt die alte Frau ihre faltigen Lider und sagt leise, was ist das, was war das alles.
Schlaf, es ist alles in Ordnung, wimmert sie, senkt den Kopf dankbar in die Höhlung der Schulter. Die Knochen ihrer Mutter sind so brüchig, sie könnten unter dem Gewicht des schweren Kopfes einfach zerbröckeln, aber sie möchte da bleiben, am liebsten bis zum Ende der Welt, die Angst vor dem Verlust lässt die Trennwand verschwinden, sie nimmt die alte Wachspuppe in die Arme, eine leere Hülle, die man deshalb mit jeglichem Inhalt füllen kann, je nach den diversen Bedürfnissen, die in der letzten Zeit stark und verwirrend geworden sind, bis sie sich zwingt, den Griff zu lockern und das Bett zu verlassen, aus dem ein modriger Geruch aufsteigt, die Füße auf den Boden zu setzen und hin und her zu laufen, mit schmerzenden Knochen und einem heftigen Gefühl der Übelkeit, weg von hier, dieses Zimmer ist nicht mehr ihres, ebenso wenig wie dieses Bett, es ist bereits Mittag und sie hat keine Ahnung, was bei ihr zu Hause los ist. Wann ist Gideon zurückgekommen und wohin war er gegangen, ist Nizan zu Hause, ist die Schüssel der Katze gefüllt oder leer, und sie wäscht sich vor dem kleinen Badezimmerspiegel das Gesicht, sie sieht nur ihre Stirn,
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