Für ein Lied und hundert Lieder
Mensch ist leicht bewegt, in den nächsten paar Tagen suhlte sich die ganze Bande in einer lauen Suppe aus Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid. Der Vorsitzende Chen und ich kauften von unserem Geld Tabak und Zigarettenhülsen, und in den Pausen der langatmigen und betriebsamen Zwangsarbeit übernahmen wir die Pflichten innerhalb der Zelle, wir halfen den lebenden Toten, Tücher unter die Fesseln zu schieben, die Ketten zu ziehen und zu putzen oder die Klamotten zu wechseln und zu waschen. Wenn ich mich hinlegte, fing ich sofort an zu träumen, ich würde mich über alle Berge machen, eine Illusion, die mich völlig erschöpfte.
»Bald ist Nationalfeiertag, da müssen sie wieder ein paar hinrichten«, sagte der Tote Chen zögernd. Gleichzeitig hielt er meine Hand auf seiner glänzenden Fußfessel fest und sagte: »Genug gewienert.«
Ich hatte keine Antwort darauf. Der Vorsitzende Chen sagte gerade: »Nicht unbedingt«, als ihn der Tote Chen unterbrach: »Ich friere am ganzen Körper, vielleicht ist die Zeit gekommen.« Danach richtete er sich langsam auf und rief dem Wachsoldaten oben zu: »Bruder Soldat, ich will tanzen.«
»Mach keinen Unfug«, warnte ihn der Wachsoldat, »sonst muss ich dich melden.«
Der Tote Chen lachte wild. Und der Blasse Magister spottete: »Wir sind doch keine drei Jahre alten Kinder, wo man es der Amme meldet, wenn sie sich bewegen, wenn dich der Wachhabende in den Arsch fickt, meldest du das dann auch?«
Der Wachsoldat stampfte auf und verschwand. Ein paar Minuten später ging die Knasttür auf, zwei von den Todeskandidaten wurden hinausgeschleppt und mit Füßen, Fäusten und Elektroknüppeln traktiert.
»Verdammte Scheiße, was für ein Spaß«, prahlte der Tote Chen in Schweiß gebadet. »Ich habe zwei Tage lang nicht gepinkelt, als der mich mit dem Elektroknüppel berührt hat, ging es gleich in hohem Bogen.«
»Ich habe den Eindruck, du bist lebensmüde«, urteilte ich kalt. Der Tote Chen erstarrte und fluchte: »Du Arschloch bist noch nicht so weit, du hast noch keine Ahnung, dass der mehr Stärke zeigt, der den Tod sucht, anstatt auf ihn zu warten.«
Am nächsten Tag nach dem Mittagessen machte sich der Tote Chen dann tatsächlich auf den Weg. Auf den Ruf hin trat er aus der Gittertür und drehte sich lachend um; er zog die Lippen kraus, aber er brachte keinen Ton heraus. Er hatte sein Versprechen, er werde sich singend von uns verabschieden, nicht vergessen. Draußen rief wieder jemand, sofort schlurfte er ein paar Schritte weiter, den Körper vornübergebeugt, als habe er es unaufschiebbar eilig, eine törichte Pose.
Die beiden übrig gebliebenen Todeskandidaten sahen einander einen Augenblick ratlos an, bevor sie sich an das Gitter stützten und zu weinen begannen wie verwahrloste Kinder, die ihren geliebten Vater verloren haben. Der Vorsitzende Chen und ich mahnten sie, wieder an den Rand des Kang zu kommen, der Kleine Tote fragte schluchzend: »Er wird heute doch nicht sterben?«
»Nein«, gab ich zur Antwort. »Wenn sie einen nachmittags holen, dann bedeutet das, dass es noch eine Nacht dauert. Er schläft auf einem Strafbett, schreibt sein Testament, wenn er Glück hat, kann er sich noch ein Video ansehen und bekommt ein bisschen was zu trinken.«
»Er hat mir all seine Sachen dagelassen«, weinte der Kleine Tote, »und ich habe mich nicht mal bedankt!«
»Dann bedank dich jetzt, er kann dich hören«, unterbrach ihn der Vogel Sun, der Gefangene mit dem höchsten Dienstalter, »das nennt man Gedankenübertragung.«
»Er wird nicht gerade jetzt an mich denken«, schüttelte der Kleine Tote den Kopf, »die Zeit drängt, er muss an viel zu viel Sachen denken.«
»Bald bist du eine richtige Meng Jiang« [42] , lachte der Blasse Magister laut, »wenn du dir solche Gedanken um den alten Chen machst, dann musst du im nächsten Leben halt eine Frau werden und ihn heiraten.«
»Als ob es ein nächstes Leben gäbe …«
»Natürlich gibt es das«, sagte ich ernsthaft, »wenn die Seele die Höhle verlässt, wie man so sagt, dann verlässt sie den Körper und wandert überall umher. Wenn morgen früh die Schüsse knallen, verabschiedet sich der alte Chen förmlich von dem stinkenden Beutel mit seinen Fesseln und Ketten und ist vollkommen frei.«
»099 hat recht«, sagte der Blasse Magister, »für dich und mich ist der Tod besser als das Leben. Du bist noch keine zwanzig, du hast dich in deinem Bauerndorf nicht ein einziges Mal satt essen können, dann bist du unter
Weitere Kostenlose Bücher