Für ein Lied und hundert Lieder
herum, hockte mich auf den Rand des Kang, und Tränen liefen mir aus den Augen. Seit über einem Jahr hatten mich die Briefe von zu Hause gerührt, aber ich hatte nicht eine Träne vergossen. Doch bei diesem Anblick fühlte ich mich erschöpft von einer unerträglichen Last, eine bleierne und kalte Trübsal entstieg meinen Knochen.
Und Große Furt, dem der Rückweg abgeschnitten war, man soll es nicht glauben, verliebte sich in Wang Er, die beiden hingen wie Pech und Schwefel aneinander und verlegten ihre Bettstelle vom Kang in den Durchgang. Große Furt sah immer mehr wie eine Frau aus, er schlingerte mit Hüften und Schenkeln herum und flirtete mit geschürztem kleinem Finger. Bei diesem überzogenen Getue schlief allen die Kopfhaut ein, und Wang Er machte es wieder impotent. Letztlich beendete eine herzhafte Ohrfeige diese Liaison in der Hölle.
Die Bewegung für freie Geständnisse brach für gut zwei Wochen über uns herein, danach, mit den glorreichen Früchten des Kampfes, kühlte sich alles wieder ab. In dieser Zeit wurde ein großer hagerer Kerl mit Namen Xie aus Zelle 9 zu uns verlegt, er sah krank aus und hatte nur ein einziges stechendes Auge. Der gute Xie hatte einen Abschluss von einer Militärakademie, sprach zwei Sprachen, war in verschiedenen Städten dreimal Sekretär eines stellvertretenden Bürgermeisters gewesen, aber wegen Korruption und wegen der Verhökerung von Kulturgütern ins Gefängnis gekommen. Unser Zuständiger Regierung Tang setzte große Erwartungen in diesen schwachen Bücherwurm und hatte ihm eigenhändig das Gepäck in die Zelle getragen und verkündet, er sei der Verantwortliche für diese Zelle, er genieße Sonderrechte und müsse nicht arbeiten und bekomme die beste Bettstelle.
Die Stimmung in der Zelle war ein paar Tage eisig, selbst Wang Er erhob sich von seinem Sofa und faltete Tüten, ein bahnbrechendes Ereignis. Wir alle behandelten den guten Xie wie eine Landmine, gingen ihm behutsam aus dem Weg, doch der kam ausgerechnet auf mich zu: »Ich soll etwas von Wan Xia ausrichten …«
Ich gab keinen Laut von mir. Da zog er sich diskret zurück und las, eine Taschenausgabe der Bibel, ein wahres Wunder, dass sie ihm hier eine Bibel genehmigt hatten! Er las schweigend einen Abschnitt, schloss eine Weile die Augen, und seine innere Bewegung zeigte sich hin und wieder in geröteten Wangen. Ich hörte mit meiner Arbeit auf und lehnte mich lahm gegen die Wand.
Der gute Xie zog aus der Matte auf dem Kang, die nach den Jahreszeiten gewechselt wurde, einen Bambuszahnstocher heraus, bewegte dieses brüchige Schneidewerkzeug murmelnd eine ganze Weile zwischen den Fingern, bis er sich schließlich ein Kreuz in die Kuppe seines Mittelfingers stach. Mit dem Blut, das aus dem Kreuz heraussickerte, schmierte er einen Spruch auf die letzte, leere Seite seiner Bibel. Die Zeit blieb stehen, ganz ohne mein Zutun wurde ich von ihm in eine Art Halluzination gesaugt, auf einer nicht alten und nicht neuen Bühne standen wir Schulter an Schulter und rangen die Hände.
Außer der Meute der Gefangenen waren wir unser eigenes Publikum.
In der gleichen Nacht noch habe ich mit Wang Er über den guten Xie diskutiert, Wang Er sagte: »Ihr seid beide Intellektuelle, ihr könnt einander verstehen. Ich fürchte, er ist ein Quisling.«
»In dem Verdacht hast du mich auch schon gehabt.«
Wang Er war eine Weile still, dann fing er an zu albern: »Gut, Politkommissar, wenn du die Aufgabe übernimmst und dich mit ihm herumschlägst, gut. Bedingung ist: Bring mir hier die Zelle nicht durcheinander.«
Die Pausenklingel läutete, die Meute legte sich rasch hin, nur Wang Er hing mit dem Kopf noch am Rand vom Kang und ermahnte mich, die Laune des Bücherwurms nicht zu verderben: »Kampfphilosophie …« Er hatte es kaum gesagt, als es vom hinteren Fenster hereinbellte: »099, aufstehen!«
Ich nahm, nackt, wie ich war, hastig Haltung an, während Wang Er den Kopf einzog wie eine Schildkröte.
»Wegen Schwätzens in der Pause«, schrie der diensthabende Regierung Yu, »zwei Stunden Strafstehen an der Gittertür!«
Ich nahm das Unglück an, umklammerte meine kalten Schultern und sagte: »Melde Regierung Yu, ich muss etwas anziehen.«
»Abgelehnt.«
»Ich erkälte mich, hier zieht es, fürchte ich.«
»Wenn du weiter herumquengelst, lasse ich dich auch noch die Unterhose ausziehen, damit du auch etwas von dem Zug hast.«
»Sie können meine Menschenwürde nicht verletzten.«
»Was hat denn ein
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